Dämliches Gesetz, loyales Völkchen

»Tief greifende Anpassung« der gesetzlichen Krankenversicherung, »Vereinfachung« des Arbeitsrechts und Abschaffung der 35-Stunden-Woche. Frankreich wird umgekrempelt. von bernhard schmid, paris

Der Gallier knurrt oft«, verriet jüngst der Häuptling dieses Völkchens, »aber er kann auch loyal und tapfer sein, wenn das Ziel richtig verdeutlicht wird.« Frankreichs Präsident Jacques Chirac sprach so vor ausgewählten Abgeordneten der Regierungspartei UMP, mit denen er im Elysée-Palast zu Mittag speiste. Veröffentlicht wurde die präsidiale Bemerkung über knurrende Untertanen von der Pariser Abendzeitung Le Monde am vergangenen Mittwoch.

Ungewöhnlich ist an Chiracs Bemerkung nicht die ironische Bezeichnung der Einwohner Frankreichs, denn die hat sich im Alltag längst eingebürgert. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der konservative Staatschef zugibt, dass man für die angekündigten so genannten Reformen viel Tapferkeit braucht.

Die nächste große Maßnahme beim Umbau des französischen Sozialstaats ist schon beschlossen. Nun soll es der Sécurité sociale an den Kragen gehen, der gesetzlichen Krankenversicherung, die 1945 eingeführt wurde. Am Montag vergangener Woche setzte Premierminister Jean-Pierre Raffarin eine 53köpfige Kommission ein, die bis zu den Weihnachtsferien eine »Diagnose« über den Zustand von Krankenkassen und Gesundheitswesen abgeben soll. Auf der Basis dieses Berichts soll dann reformiert werden.

In welche Richtung nachgedacht werden wird, steht auch schon fest. In seiner Rede vom vorigen Montag betonte Raffarin auffällig oft den Unterschied zwischen »wesentlichen Bedürfnissen und anderen, die eher subjektive Bedürfnisse sind«, und die notwendige »Balance zwischen dem, was zur kollektiven Solidarität gehört, und der individuellen Verantwortung«. Die erstgenannte Kategorie soll auch weiterhin von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt werden, während die zweite künftig den privaten Versicherern überlassen werden soll.

Die privaten Gesellschaften, die Zusatzversicherungen anbieten, reagierten darauf, indem sie Beitragserhöhungen ankündigten. Bereits jetzt sind die privaten Versicherungen mit erhöhten Ausgaben konfrontiert, die durch jüngste Regierungsbeschlüsse verursacht werden und die sie alsbald auf Privatpersonen umlegen werden. Denn das Kabinett hat nicht vor, sämtliche Maßnahmen, die die Krankenversicherung betreffen, in einem Aufwasch zu präsentieren. Man fürchtet, dass sich zu viel Widerstand bilden könnte. Daher hat man bereits zu reformieren begonnen: Im April dieses Jahres wurde die Kostenerstattung für insgesamt 617 Medikamente von zwei Dritteln auf ein Drittel gesenkt. Im Juli nahm Gesundheitsminister Jean-François Mattei 84 Arzneimittel ganz aus der Rückerstattung heraus. In diesem Herbst werden weitere Maßnahmen folgen. So sollen homöopathische Behandlungen künftig nur mehr zu einem Drittel bezahlt werden – bisher waren es zwei –, und die Eigenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten wird von gut zehn auf 13 Euro pro Tag steigen.

Jacques Chirac hatte bei seiner Fernsehansprache am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, noch in Aussicht gestellt, es werde gar keinen »Umsturz« bei der Krankenversicherung geben, sondern nur eine »Anpassung«, die wohl über mehrere Jahre gestreckt werden sollte. Aber Raffarin hat jetzt erklärt, eine »tief greifende Anpassung« müsse es schon sein. Zumindest das Kernstück des Umbaus im Gesundheitswesen soll seinen Worten zufolge nunmehr bis zum 14. Juli kommenden Jahres abgeschlossen sein.

Auch auf anderen Gebieten soll es zu einschneidenden Änderungen kommen. So nahm am 7. Oktober eine Regierungskommission unter Vorsitz von Michel de Virville, dem Personaldirektor beim Automobilhersteller Renault, ihre Tätigkeit auf, um »das Arbeitsgesetzbuch zu vereinfachen«. Dass es dabei nicht darum gehen wird, die Rechte der abhängig Beschäftigten auszuweiten, dürfte feststehen.

Am Vortag hatte der frühere Air-France-Direktor Christian Blanc, der seit vorigem Dezember auf einen Parlamentssitz nachgerückt ist, einen Gesetzesvorschlag zur Einführung eines »service minimum« bei Streiks im öffentlichen Dienst vorgestellt. Gemeint ist die gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung einer Mindestbelegschaft, die etwa in den Transportbetrieben das Streikrecht faktisch aushebeln würde. Eine solche Bresche im Streikrecht wurde von Teilen der bürgerlichen Rechten seit langem gefordert. Seiner eigenen Fraktion von der christdemokratisch-liberalen UDF scheint das jedoch zu weit zu gehen; daher kündigte Blanc seinen Wechsel zur anderen bürgerlichen Fraktion an, zur Regierungspartei UMP.

Schließlich gerät auch die zwischen 1998 und 2001 von der sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin eingeführte Regelarbeitszeit von 35 Stunden pro Woche unter erheblichen Beschuss.

Bereits dieses Arbeitszeitgesetz selbst trug einige kapitalfreundliche Züge, indem es etwa einem »Deal« zwischen Kapital und Arbeit den Weg ebnen sollte – nämlich einem Tausch von Verkürzung gegen Variabilität der Arbeitszeiten, den Bedürfnissen des Kapitals nach Flexibilität Rechnung tragend. Ferner trug es zu einer Parzellierung des Arbeitsrechts bei, da seine Umsetzung den Abschluss einzelbetrieblicher Abkommen erforderte. Dennoch führten die Kapitalverbände, vor allem der Arbeitgeberbund Medef, eine stark ideologisch aufgeladene Hasskampagne gegen das »linke« Gesetz.

Nach dem Regierungswechsel im vorigen Jahr forderte der Medef zunächst tendenziell eine gesetzliche Abschaffung der 35-Stunden-Norm. Der wirtschaftsnahe Flügel der regierenden UMP, der sich selbst gerne als »Erneuerer« sieht, hat seinen Druck in den letzten Wochen verstärkt.

Doch nun scheint die Regierungsmehrheit sich anders entschieden zu haben. Nicht durch ein »dämliches« Gesetz, so Chirac in seiner trauten Essensrunde, soll die bisherige Arbeitszeitverkürzung rückgängig gemacht werden, denn so etwas hätte womöglich den gewerkschaftlichen Unmut gebündelt und die Arbeitszeitpolitik doch wieder zum Gegenstand einer landesweiten politischen Auseinandersetzung gemacht.

Stattdessen soll nunmehr die Parzellierung des Arbeitsrechts durch einzelbetriebliche Abkommen noch verstärkt werden. Sozialminister François Fillon will sogar ein Gesetz zur generellen Reform der Tarifverhandlungen verabschieden, das den Abschluss einzelbetrieblicher Verträge favorisiert. Demnach sollen Betriebsabschlüsse künftig weit mehr als bisher von Branchenverträgen und auch vom Gesetz abweichen können.

Laut Fillons Entwurf soll die Arbeitszeit lediglich ein mögliches Thema sein. Auf diese Weise würde die faktische Abschaffung der 35-Stunden-Woche in einem allgemeinen Gesetz versteckt werden. Und dessen Philosophie wird vom Arbeitgeberbund Medef und der sozialliberalen Gewerkschaft CFDT grundsätzlich begrüßt.