»Chávez fehlt eine kreative Opposition«

José Vicente Rangel

Auf den Putschversuch im April 2002 folgte in Venezuela eine Phase der Instabilität. Doch nun ist die Regierung unter Präsident Hugo Chávez wieder in die politische Offensive gegangen. Mit sozialen Programmen und wortgewaltiger Rhetorik soll der bürgerlichen Opposition der Wind aus den Segeln genommen werden (siehe Seite 18).

José Vicente Rangel ist seit Mai 2002 Vizepräsident der Bolivarischen Republik Venezuela. In den sechziger und siebziger Jahren war er Parlamentarier, danach arbeitete er als Kolumnist, Fernsehmoderator und Chefredakteur mehrerer Tageszeitungen. Mit ihm sprach Simón Ramírez Voltaire.

Seit Hugo Chávez 1999 Präsident wurde, ist seine Politik umstritten. Die Opposition bezeichnet ihn als Diktator, seine Anhänger loben die sozialen Reformen. Ist Chávez ein Populist?

Wenn Populismus bedeutet, dass der immense Reichtum des Landes, den bislang wenige Reiche unter sich aufteilten, nun unter den Armen verteilt wird, dann sind wir Populisten. Alle unsere Reformen könnten als populistisch angesehen werden. Uns interessiert nicht besonders, welchen Namen das Ganze hat, Populismus oder Revolution. Wichtiger ist der Prozess, der in Gang gekommen ist. Dieses Land hat sich in den letzten vier Jahren verändert. Das ruft natürlich viele Reaktionen in der venezolanischen Opposition, aber auch international hervor. Die beste Definition für diesen Prozess ist: Er ist atypisch.

Der Diskurs von Chávez ist stark religiös gefärbt. Will der Präsident Gott für seine Politik in Anspruch nehmen?

Chávez ist ein großartiger Kommunikator. Er hat das Verhältnis zwischen Bürger und Präsident normalisiert und der Präsidentschaft den Schein des Heiligen genommen. Er hat eine christliche Auffassung von Politik und von der Beziehung zwischen Bürgern und Politikern. Deshalb ist seine Sprache voller christlicher Codes. Die Venezolaner glauben an Gott, aber sie gehen sonntags nicht zur Messe, abgesehen von einer Minderheit. Und in diesem Glauben sind alle gleiche Kinder Gottes. Diese egalitäre Vorstellung ist es, die Chávez in seinem Diskurs aufgreift.

Die Gleichheit vor Gott ist eine Sache, die in der Gesellschaft eine andere. Wie soll Chávez’ bolivarische Revolution aussehen?

Ein paar Beispiele: Wir machen eine Alphabetisierungskampagne, schaffen Studienplätze für Arme, bieten kostenlose medizinische Versorgung und vergeben Mikrokredite. Die Oligarchie rebelliert jetzt gegen die Regierung, weil diese sich nicht von ihr kontrollieren lassen möchte. Seit der Tragödie in Chile 1973 herrschte Pessimismus über die Idee des friedlichen und demokratischen Weges zum Sozialismus. 30 Jahre nach Allende gehen wir diesen Weg, und unsere Ausgangssituation ist besser als in Chile. Wir haben die Kontrolle über die Devisen und über die Erdöleinnahmen. Als die Bourgeoisie die Versorgung lahm legen wollte, kaufte der venezolanische Staat für 600 Millionen Dollar Lebensmittel und für 700 Millionen Benzin. Etwas Vergleichbares kann kein Staat in der Region machen. Außerdem haben wir ein demokratisch eingestelltes Militär auf unserer Seite. In Erinnerung an den 30. Jahrestag des Mordes an Allende und als Lehre daraus sage ich heute: Soldados y pueblo unidos, jamas seran vencidos! (Soldaten und Volk vereint können niemals besiegt werden!) Das macht die Besonderheit Venezuelas aus.

Die Opposition wirft Chávez vor, nicht Allendes Politik, sondern das kubanische System kopieren zu wollen. Folgt die Regierung einem ideologischen Modell?

Das Regierungsteam besteht aus Menschen, die seit langem für die Freiheit in unserem Land kämpfen. Ich selbst bin seit 50 Jahren politisch aktiv. Ich war im Exil, ich war politischer Häftling und Kämpfer für die Menschenrechte. Wir sind nicht daran interessiert, uns irgendeinem Modell anzupassen. Wir kennen den Marxismus gut, aber wir sind keine Marxisten. Wir sind Bolivaristen, weil das Werk Bolívars ausreichende Elemente für unser politisches Projekt enthält.

Ähnlichkeiten zum kubanischen System sind aber nicht zu übersehen, zum Beispiel im Falle der bolivarischen Zirkel.

Nein, die bolivarischen Zirkel haben mit den Komitees zur Verteidigung der Revolution in Kuba nichts zu tun. Sie sind ein Transmissionsriemen zwischen den Bürgern und den Institutionen. Jeder kann einen solchen Zirkel gründen, um seine und die gemeinsamen Bedürfnisse zu artikulieren, am Arbeitsplatz, in der Gewerkschaft oder im Ministerium. Sie sind praktischer Ausdruck der partizipativen Prinzipien unserer Verfassung. Die Politik soll das werden, was sie in der Theorie ist: Partizipation des Bürgers.

Warum betont die Regierung Chávez dann immer wieder öffentlich die Freundschaft zu Kuba?

Wir stehen dazu, weil wir prokubanisch sind. Das System der Alphabetisierung, das wir anwenden, stammt aus Kuba. Es ist das effektivste, das es gibt. Wir profitieren auch ökonomisch von Kubas Hilfe. Wenn wir Angebote aus Frankreich, Italien oder den USA bekämen, würden wir sie aber mit Sicherheit auch annehmen.

Die US-Regierung hat deutlich ihre Sympathie für die Opposition gezeigt. Wie sind die Beziehungen zu den USA?

Wir halten unsere Verpflichtungen strengstens ein und kooperieren in einigen Feldern so gut wie kein anderes Land der Region. Die Zusammenarbeit gegen den Drogenhandel ist ausgezeichnet, während Chávez’ Amtszeit wurden mehr Drogen beschlagnahmt als je zuvor. Auch unsere Arbeit gegen den Terrorismus wird von den USA anerkannt. Nicht zuletzt sind wir ein zuverlässiger Öllieferant. Unsere Differenzen bestehen vielmehr zu einigen Sprechern der USA, die uns eine Politik aufdrücken wollen, die wir nicht akzeptieren können.

Wie erklären Sie sich, dass Ihre Regierung so umstritten ist, während z.B. Präsident Lula da Silva in Brasilien, der auch als Linker gilt, international großes Ansehen genießt?

Warten Sie mal ab. Wenn Lula mit seinen Reformen nicht vorankommt, bekommt er Probleme mit den Sektoren, die ihn bislang unterstützten. Das Dilemma der Machtausübung in Lateinamerika ist klar: Entweder du befriedigst die Bedürfnisse der unteren Schichten oder du bedienst die Interessen der mächtigen Gruppen. Chávez’ Gegner sagen, er habe 30 Prozent Rückhalt in der Bevölkerung. Selbst diese Zahl ist nach über vier Jahren Regierungszeit sagenhaft. Toledo in Peru hat nach zweieinhalb Jahren nur noch sieben Prozent Rückhalt, De la Rua in Argentinien musste nach zwei Jahren gehen. Also muss es doch an unserer Politik etwas geben, was breiten Schichten entgegenkommt und das sie unterstützen.

Ihre politischen Gegner haben das Ziel, die Regierung zu stürzen, nicht aufgegeben. Rechnen Sie mit einem Erfolg des Referendums, das Chávez’ Amtszeit verkürzen soll?

Die Opposition ist zerstritten und hat keine klare Linie. Deshalb scheuen wir das Referendum überhaupt nicht. Ich bezweifle, dass sie es zustande bringt. Chávez fehlt eine intelligente, fähige und kreative Opposition. Es gibt eine aggressive Fraktion, die immer noch denkt, ein Putsch sei der einzige Ausweg. Der demokratische Teil der Opposition lässt sich von diesen Leuten das Heft aus der Hand nehmen.

Nach dem Putschversuch im April 2002 vereinbarten wir mit der Opposition einen Dialog. Es ist aber inakzeptabel, wenn sich jemand ins Gespräch begibt und gleichzeitig gegen uns konspiriert. Wir haben der an dem Putsch beteiligten Managerspitze des staatlichen Erdölbetriebes PDVSA verziehen. Sie kehrten zur Arbeit zurück, doch anstatt die Politik des Dialogs fortzuführen, sabotierten sie die Erdölindustrie im Dezember 2002, was dem Staat einen Schaden von zehn Milliarden Dollar zufügte. Nun wollen wir nicht, dass sich das wiederholt. Die Würde verliert man nur einmal im Leben.