Fettes Boot

Sich ins Rennboot zu setzen, verschönert die Jugend nicht. Sportarten im Selbstversuch VIII: Rudern. von silke kettelhake

Das war die Zeit, als Pferdescheiße plötzlich gar nicht mehr so verlockend anheimelnd roch, sich das Interesse weg vom Gaul hin zum männlichen Geschlecht verlagerte und man sich nichts sehnlicher wünschte als endlich ihn, den »Freund«. Alle anderen hatten schon einen, nur die zwei schlaksigen blonden Freundinnen ohne Busen nicht.

Also ab in den Ruderklub.

Da unten an der braun-soßigen Weser wimmelte es von gestandenen Recken und »Alten Herren«, wie die Typen ab Zwanzig hießen. Aber: Zwei 16jährige Teenie-Mädchen wurden auch hier kaum beachtet. Es sei denn, man versuchte, sich in ein kippliges Rennboot namens Skiff zu setzen, mit guten Chancen, auf der anderen Seite gleich wieder ins Wasser zu plumpsen.

Mutproben halt, wie durch die Weser zu schwimmen. Dem Bernhardinerhund, der mit uns schwamm, fehlten am nächsten Tag ganze Fellbüschel.

Schuld war die DDR, da wurde viel Gift ins Wasser gepumpt, so munkelten die misstrauischen Hamelner, die nach dem Krieg lieber per Volksentscheid für den Bau eines Gefängnisses statt einer Universität gestimmt hatten.

Richtig imponieren konnten allerdings nur Regattasiege. Und dafür, dass der blonde Jan und der langhaarige Heinz, von dem man nicht wusste, ob er tatsächlich ein wenig zurückgeblieben war, die kleinen Gören endlich beachteten, dafür mussten sie trainieren. Nicht auszudenken, wie viele Jungs sie dann auf den tollen Regatten in so tollen Orten wie Osnabrück, Minden oder Deggendorf kennen lernen würden!

Das hieß dann: morgens vor der Schule um viertel vor sieben kleine Runde laufen, waren ja nur so sechs Kilometer, nach der Schule aufs Wasser, bei jedem Wetter, dann noch in den Kraftraum. Im Winter froren die Hände fest an den leichten Gummiskulls, der Schweiß gefror im Rücken. Am Wochenende war dann endlich richtig Zeit zum Training: große Runde laufen, so 15 Kilometer, und dann wieder ab aufs Wasser. Oder mal ins Bundesleistungszentrum nach Hannover. Donnerstags war trainingsfrei. Auch in den Ferien wurde geprügelt: Trainingslager Ratzeburg. Hier ruderten schon die ganz Großen wie der Olympiasieger Armin Eichholz. Abends beim verordneten gemeinsamen Meditieren für die Siegesgewissheit kam regelmäßig schon der Schlaf.

An Jungs dachten die beiden hoch aufgeschossenen Blondinen immer weniger. Ein Tag ohne Sport war ein verlorener Tag. Muskelabbau drohte. Fettgewebe könnte sich schon an zwei trainingsfreien Tagen ausdehnen. Ekelhaft, diese dicken Schenkel, dachte sich die eine, und umwickelte ihre staksigen langen Beine mit mehreren Rollen Alupapier. Einfach wegschwitzen, dachte sie sich, und umwickelte ihre Taille mit zerrissenen Mülltüten. Pfunde halten, Pfunde verlieren, der tägliche Blick auf die Waage wurde zur Pflicht. Ein Kilo mehr, und die beiden hätten nicht starten dürfen.

Die Anzeichen einer Sportmagersucht mehrten sich. Schokolade war tabu. Die eine brachte der anderen immer neue Tricks bei, wie sich eine Gewichtszunahme vermeiden ließ. Das Essen wurde zum Feind und der eigene Körper zu einem Ding, mit dem man Grenzen austesten konnte.

Mit Schaudern betrachteten die beiden eher zarten Mädchen aus der Leichtgewichtsklasse die muskelbepanzerten Ruderinnen aus den Altersklassen über ihnen. So wollten sie nie aussehen. Rudern, das war für sie Ästhetik, wenn das leichte Boot scheinbar wie von selbst über das Wasser glitt und das Eintauchen der Ruder zur perfektionierten Synchronisation wurde.

Die Eltern waren stolz, wenn ihre Mädels mal wieder in der Lokalzeitung abgebildet wurden. Sie kamen aus kleinen Verhältnissen, hatten sich hochgearbeitet. Leben hieß arbeiten. Disziplin, Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Genauigkeit – die üblichen Tugenden eben. In Schule und Sport waren ihre Töchter top. Erfolg zählt, ist messbar und die Eintrittskarte in ein noch besseres Leben. Was das ist, wissen die Eltern auch nicht so genau. Eine Stufe höher? Wohin?

»Leistung bringen, Mädchen!« brüllte der Trainer aus dem kleinen Motorboot, das dem Rennboot dicht folgte, »strengt euch gefälligst an! Fahrt den Jungs davon!« Die Jungs im Vierer, mit denen der Mädchenzweier – Strecke rauf, Strecke runter – im Training konkurrierte, war voller pickliger 17jähriger. Jan war weg, zum Studieren nach irgendwo. Und Heinz interessierte sich nur für Holz und Boote. Aber das war sowieso nicht mehr wichtig und auch schon so lange her, wie aus einem anderen Leben.

Wichtig war Gewinnen: am Start heftige, kurze Ruderschläge, dann länger werden, schon hier einen Vorsprung erarbeiten, der die Konkurrenz mürbe machen sollte, das richtige Tempo im Rennen fahren, wie automatisiert den Blick auf einen imaginären Punkt richten, um die Fahrtrichtung zu halten, ein Haar würgend verschlucken, irgendwann nach 800 Metern das Schreien, los Endspurt, es geht noch was, und wirklich, es geht noch was, wir haben gewonnen.

Gewonnen. Nach 1 000 Metern, das Wasser glitzert, die Wahrnehmung funktioniert wieder, die Erschöpfung kommt. Mit zitternden Muskeln aussteigen, die Beine geben nach. Glückwünsche, Hände auf Schultern, auf dem Kopf, alles irgendwie unwirklich. Die Party im Bootshaus bekommen die Zweier-Mädchen kaum mit. Am Sonntagmorgen wartet das nächste Rennen.

»Das Rudern hat mich gelehrt, mir Ziele zu setzen und darauf hinzuarbeiten«, erklärt Armin Eichholz. Der Olympiasieger von 1988 saß von 1987 bis 1992 mit Bahne Rabe im Zweier. Bahne Rabe, der Schlagmann des erfolgreichen Bootes, starb im Sommer 2001 an Magersucht.

»Körperfett konnte er noch nie leiden«, sagt Eichholz. »Menschen, die in sich das Nichts erzeugen, sind Maschinen.« Von 98 Kilo hungerte sich Rabe auf 60 runter. Bis zuletzt quälte er sich im Kraftraum. Das, was den erfolgreichen Sportler ausmacht, Willenskraft und Ausdauer, richtete er gegen sich selbst. Bahne sah mal ziemlich gut aus. Bis er aufhörte zu essen.

Nachdem die Mädchen das zweite Jahr im eiskalten Winter trainiert hatten, als die Eisschollen über die Weser trieben und die Saison kurz bevorstand, riss sich eine der beiden eine Achillessehne. Aus der Traum von der deutschen Meisterschaft! Aber sie hätten bestimmt gewonnen. Die Achillessehne heilte nur langsam.

»Etes-vous pret – partez!« brüllte es durchs Megaphon. Nach einem bravourösen Start lag die mit dem blonden dicken Zopf wieder vorne, jetzt im Einer, doch was ist das denn? »Alle Ruder stehen still, wenn ich es will«, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie ruderte ans Ufer. Die unglaubliche Monotonie des Trainings wurde ihr bewusst, der dumpfbackige Trainer ging ihr plötzlich so richtig auf die Nerven, und die Ruderrecken, die sich bewegten wie in einem Riefenstahl-Film, konnten ihr gestohlen bleiben.

Die Gefahren von Sport- und Magersucht sind selten ein Thema, wenn es darum geht, Erfolge zu erreichen. Und dass fast alle Leistungssportler körperliche Schäden vorzuweisen haben, fällt meistens auch unter den Tisch. »Ihre Knie?« sagte der Arzt. »Da kann man nichts machen. Das ist Verschleiß, das wird nur schlimmer. Haben Sie intensiv Sport betrieben?«

Silke Kettelhake rudert heute, fast 20 Jahre nach dem Leistungsdrill, ab und zu über den Wannsee. Äußerst ungern lässt sie sich kommandieren, schon gar nicht von einem Trainer im Fitness-Studio.

Die Rennboote in Hameln sind längst eingemottet.