Hier spricht die neue Apo

Die Demonstration in Berlin am vergangenen Samstag könnte der Aufbruch einer neuen sozialen Bewegung gewesen sein. von martin kröger

Dies ist der Beginn einer neuen außerparlamentarischen Opposition.« Die Stimme der Moderatorin des Bündnisses gegen Sozialkahlschlag klingt begeistert und zuversichtlich. Für die VeranstalterInnen gab es denn auch allen Grund zur Freude. Wider Erwarten folgten am vergangenen Samstag 100 000 Menschen, unter ihnen viele RentnerInnen, Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen, dem Aufruf unter dem Titel »Alle gemeinsam gegen den sozialen Kahlschlag«. Das Bündnis selbst hatte ursprünglich nur mit 20 000 TeilnehmerInnen gerechnet.

Kurz zuvor waren auf dem völlig überfüllten Gendarmenmarkt im Zentrum Berlins gellende Pfiffe und wütende Buhrufe zu hören, als die Moderatorin mitteilte, was die grünen Politikerinnen Angelika Beer und Katrin Göring-Eckhardt vom Engagement der DemonstrantInnen hielten. Als »Besitzstandswahrer« diffamierte die grüne Fraktionsvorsitzende Göring-Eckhardt sie. Die Parteivorsitzende Angelika Beer warf den OrganisatorInnen im Berliner Tagesspiegel vor, »maßlose Polemik« zu betreiben, die Vorwürfe gegen die Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung seien »absolut orientierungslos«.

Zur größten Demonstration gegen den Sozialabbau in der Regierungszeit Gerhard Schröders hatte ein großes Bündnis aus Landesgruppen verschiedener Gewerkschaften, GlobalisierungskritikerInnen, Initiativen von Erwerbslosen und SozialhlfeempfängerInnen sowie linken Gruppierungen und Parteien aus ganz Deutschland aufgerufen. Dass sich so viele beteiligten, könnte auch an der Demonstrationsroute gelegen haben, die vom Alexanderplatz durch die Berliner Mitte führte und so manchem Passanten die Gelegenheit bot, sich dem Protest anzuschließen.

Dass dieser 1. November nun zum Symbol einer neuen sozialen Bewegung werden könnte, war zuvor nicht absehbar. Interne Streitigkeiten hätten fast zur Absage der Veranstaltung geführt, da die teilnehmenden BasisgewerkschafterInnen nicht gemeinsam mit linksdogmatischen Gruppen auf die Straße gehen wollten. Aber auch die Gewerkschafter selbst waren gespalten: Dachverbände und der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) ließen die Gruppen an der Basis mit der Vorbereitung und der Durchführung des Protestes allein und unterstützen sie nicht.

Einig dagegen war man sich im gemeinsamen Feindbild: »Die rot-grün-schwarz-gelbe deutsche Einheitspartei«, wie Ilona Plattner, die Mitglied im Bundesweiten Koordinierungskreis von Attac ist, sie auf der Abschlusskundgebung nannte. Die Reformvorschläge der bürgerlichen Parteien wurden im Aufruf als der »größte Angriff auf die Lebens- und Arbeitsverhältnisse seit dem Zweiten Weltkrieg« bezeichnet.

Hier aber hörten bei vielen die Gemeinsamkeiten schon auf. »Ich bin zwar auch hier, um gegen die neoliberale Ideologie der Agenda 2010 zu demonstrieren«, erzählt Jorge Sanchez, »aber die Beteiligung der PDS an dieser Veranstaltung kotzt mich an. Man sollte sie eigentlich aus der Demonstration verjagen.« Denn »schließlich macht die PDS bei ihren Regierungsbeteiligungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern doch dieselbe Politik, die Sozialausschüsse der CDU laufen hier doch auch nicht mit«, schimpft der junge Student. Sanchez hofft, dass sich der Widerstand gerade ohne die Beteiligung der etablierten Parteien ausbreitet und verstärkt.

Weiter hinten im Demonstrationszug, im gemischten sozialrevolutionären, anarchosyndikalistischen Block, sieht man die Perspektiven sozialreformistischer Politik sowieso kritisch. Die bloße Erhaltung des Sozialstaats und ein wenig Umverteilung von oben nach unten, wie es von der großen Mehrheit der TeilnehmerInnen erhofft wird, wird von den radikaleren DemonstrantInnen skeptisch beurteilt. »Unsere Agenda heißt Widerstand. Kapitalismus lässt sich nicht reformieren«, steht auf dem Fronttransparent des Blockes, in dem zumeist jugendliche AktivistInnen aus linken Gruppierungen wie der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), der Antifa-Gruppe Kritik und Praxis Berlin (KP) und anderen eher undogmatischeren Organisationen anzutreffen sind.

Aus dem Lautsprecher dröhnt Punk und elektronische Musik, die Stimmung ist hier ausgelassen. Zur Erheiterung der Sozialrevolutionäre fliegen hin und wieder Böller und Leuchtkugeln. Dieser Teil der Demonstration wird von einem Spalier der Bereitschaftspolizei begleitet, während die große Masse der Luftballon- und FahnenschwenkerInnen ohne diese Begleitung auskommt.

Neben dem kleinen Lautsprecherwagen verteilt eine Aktivistin der Gruppe »Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft« Flugblätter. Gemeinsam mit einigen anderen Gruppen hatten sie zu dem sozialrevolutionären Block aufgerufen. Eigentlich sollte es zwei sozialrevolutionäre Blöcke geben, weil in der Vorbereitung, genau wie bei den Massenorganisationen, interne Streitigkeiten ein gemeinsames Vorgehen erschwerten. Das allgemeine Chaos des rapiden Aufbruchs der Demonstration vermischte jedoch die verschiedenen Gruppen.

»Uns geht es darum, eine revolutionäre Position zu beziehen«, erzählt Marie Butenschön von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft. »Wir kritisieren die Haltung vieler Linker, die von ihren radikalen Positionen abgerückt sind und anfangen, Forderungen an den Staat zu stellen.« Stattdessen müsse vielmehr die systemstabilisierende Rolle der Gewerkschaften und der »Linken des Kapitals« reflektiert werden, die den »alten Plunder aus über hundert Jahren Reformismus feil bieten« und »jeden Widerstand in die bestehende Ordnung« integrieren.

Trotzdem herrscht auch hier Aufbruchstimmung. »Dies wird erst der Anfang sein, aber wer weiß, manchmal überschlagen sich die Ereignisse«, hoffen die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft.

Eine neues Idol und eine Symbolfigur des neuen Widerstands gibt es indes schon: »Florida-Rolf«. Der Sozialhilfeempfänger Rolf John, der wegen einer »Deutschlandallergie« sein Domizil in Miami aufgeschlagen hat und von Bild als größter »Sozialschmarotzer« dieses Landes bezeichnet wurde, scheint vielen sympathisch zu sein. »Meer für Alle. Solidarität mit Florida-Rolf!«, steht auf dem Pappschild eines mit einer Perücke und einer Plüschjacke verkleideten Queer-Aktivisten. Er ist der Meinung, Deutschland sei so schön, dass man es am besten von außen betrachtet. Für die Zukunft sieht er allerdings schwarz: »Florida wird untergehen, und die Gefahr ist, dass wir mit untergehen, deswegen muss Widerstand geleistet werden.«

Wie die Zukunft aussehen könnte, zeigten die anderen MitstreiterInnen des Queer-Blocks, die alle ähnlich wie der Fan von Florida-Rolf kostümiert sind. Sie sind mit einer vier Meter hohen Puppe aus Pappe auf einem Fahrradgestell unterwegs, die eine Sachbearbeiterin des Arbeitsamtes aus dem Jahre 2010 darstellen soll. Mit ihren überdimensionierten Armen versucht die Puppe, Arbeitslose zu krallen und sie zu Minijobs wie Müllsammeln und Prostitution zu verdammen. »Wir suchen Leute, um sie zu versklaven«, erklärt eine der PuppenträgerInnen. »Zwangsarbeit ist wieder schwer im kommen, da sind wir ganz Trendsetter.«

Als die Puppe auf der Abschlusskundgebung am Gendarmenmarkt ankommt, verkünden die VeranstalterInnen gerade ihre Pläne gegen die Vision vom »Sklavenstaat«. Das nächste Treffen der »außerparlamentarischen Opposition« und der neuen sozialen Bewegung wird Mitte November in Paris stattfinden. Auf dem Europäischen Sozialforum soll der Widerstand gegen den Sozialabbau, der gleichzeitig in vielen Ländern der Europäischen Union stattfindet, koordiniert und organisiert werden. Ausgerechnet Paris, der Ausgangspunkt vieler revolutionärer Entwicklungen. Auf jeden Fall lässt sich in der französischen Hauptstadt einiges von der dortigen Lust auf Widerstand lernen.

In Deutschland steht der Parteitag der SPD in Bochum vom 17. bis zum 19. November an. »Diese Demonstration ist erst der Anfang«, rief Ilona Plattner von Attac den Versammelten auf dem Gendarmenmarkt zu. Vielleicht behält sie ja Recht.