Sleeper Cell

Hauptquartier, Meldung 3 254

Die Logistik der Wahrnehmung, der messianische Hype der Gegenwartskultur: Alles macht uns fertig. Wir kommen nicht mehr aus dem Bett hoch. Fünfzig Meilen westlich brennt Suburbia. Hubschrauber der lokalen Fernsehteams strahlen mit so genannten Nachtsonnen auf verbrannte Erde.

Ich liege noch wach im Bett, als ich ein Knarren auf der Veranda höre. Ein riesiger Mond hängt über dem Feuer am Big Bear Mountain. Es ist so hell, dass man auf hundert Meter jede Einzelheit erkennen kann. Ich schaue noch eine Weile. Ich horche. Aber da ist nichts. Nur mein Atem.

Aber er klingt nicht nach meinem Atem. Es ist ein Ächzen. Ich drehe mich um und sehe K9 auf der Veranda sitzen. Sein Mund steht weit offen, die Arme hält er bequem hinter seinem Kopf. Er sieht noch genauso aus wie vor sechs Jahren, als ich ihn in der Münchener Zentrale gesehen habe.

Ich sage: »Was zum Teufel machst du hier?« Eigentlich wollte ich was ganz anderes fragen. Ich sage dann: »Du hast mich erschreckt. Wieso bist du gekommen?«

K9 antwortet nicht. Er kaut auf etwas herum. Er starrt in die Weite.

Wieso ist er das Risiko eingegangen? Wusste er von Hannahs gefährlichem Destruktionsdruck? Gibt es Widerstand in der Zentrale, weil wir von sinnlosen Gewaltorgien träumen? Weil wir bisher keine Angriffsziele festlegen konnten? Weil wir vielmehr versucht haben, verschiedene Wirklichkeiten für verschiedene Zielgruppen zu produzieren? Weil wir überzeugt sind, dass das zweiwertige Unterscheidungs-Management immer irrelevanter wird und sich längst »dritte Werte« jenseits von »wahr« und »falsch« durchgesetzt haben? Und jetzt versuchen die Klauen der Krebswächter an unsere Nervenzentren zu gelangen?

Oder will uns K9 davon berichten, wie dieser dritte Wert das Leben in der deutschsprachigen Printmedienwelt so sehr quält, dass es nicht mehr zum Aushalten ist: Werte wie »emotionale Erregung«, »ästhetische Kommunikationsqualität«, »psychedelische Intoxikation«, »transmoralischer Thrill« oder »kognitive Indifferenz«.

»Der Journalismus löst sich auf«, sagt K9 plötzlich. »Kommt nach Hause. Wir lösen eure Zelle auf. Die Mission ist beendet.«

Das klingt gut. Aber ich traue ihm nicht. Wenn unsere Mission beendet sein soll, wieso taucht K9 hier persönlich auf. Er hätte sich das Risiko sparen und uns über die üblichen Kanäle informieren können. Zwei Minuten Schweigen.

Hannah tritt auf die Veranda hinaus. Als sie K9 sieht, scheint sie nicht besonders überrascht. Sie schließt ihren Morgenmantel am Hals und zündet sich eine Zigarette an. Sie lässt ihren Blick alles in sich aufnehmen, bis er schließlich am rot aufblitzenden Licht ganz oben auf der gegenüberliegenden Bergkette, wo C-130-Flugzeuge Wasser auf riesige Brände abwerfen, hängen bleibt.

Hannah sagt jetzt, dass unsere Mission nicht beendet ist. Dagegen könne weder er, K9, noch die Zentrale in München was tun. Der Krieg sei erst vorbei, wenn das letzte Arschloch tot ist.

K9 grinst gequält. Sein Gesicht verzieht sich, als ob in seinem Schädel Antennen eingebettet sind, die Hannahs Worte als Überschall-Drohungen wahrnehmen.

Wir werden uns Zelle für Zelle durch die Gehirnschirme der Erde kämpfen, sagt Hannah. Egal was mit uns geschieht. Plan D verlangt totale Enthüllung. Daran halten wir uns. Wir müssen den Leuten das manipulierte Lebenszeitglücksrad zeigen. Dann stürmen wir die Wirklichkeitsstudios.

Hannah schüttelt ihr Haar und zündet sich eine neue Zigarette an. Niemand von uns rührt sich.

»Sleeper Cell« erscheint als anonymer Kolumnenroman.