Tee trinken in Sarajevo

Viele junge Bosnierinnen und Bosnier ziehen lieber gleich in die EU, als die Aufnahme ihres Landes in den Euro-Block abzuwarten. Bosnische Politiker träumen von einem Beitritt schon 2009. von markus bickel, sarajevo

Sanja kann das Gemotze ihrer Kommilitonen einfach nicht mehr hören. »Sollen sie doch selbst etwas machen, statt immer nur in Cafés zu sitzen und über die schlechte Lage zu lamentieren«, schimpft die 23jährige Studentin. Ihre letzte Prüfung an der mitten im Zentrum von Sarajevo gelegenen Fakultät für Wirtschaftswissenschaften hat sie Anfang Oktober hinter sich gebracht, jetzt steht nur noch die Abschlussarbeit bevor. Ein halbes Jahr bleibt ihr Zeit für ihre Studie über Bosniens Verhältnis zur Europäischen Union. »Das ist wenigstens etwas Praxisbezogenes«, erklärt sie mit entschlossenem Ton in der Stimme.

Zwar glaubt auch Sanja nicht daran, dass das anspruchsvolle Ziel von Ministerpräsident Adnan Terzic, bis 2009 dem Euro-Block beizutreten, wirklich erreicht werden kann. Doch immerhin steigen mit einer Expertise zu diesem Thema ihre eigenen Chancen, bei einer der seit Kriegsende in Bosnien stationierten internationalen Organisationen unterzukommen. Und es wächst auch die Möglichkeit, in Sarajevo oder einer anderen Stadt des Dreimillioneneinwohnerlandes ein Gehalt zu bekommen, das die kläglichen 250 Euro Durchschnittslohn übersteigt.

Denn in den anderen Sektoren der bosnischen Volkswirtschaft, die fast vollständig von Weltbankgeldern und den Finanzspritzen des Internationalen Währungsfonds abhängig ist, sieht die Lage auch knapp acht Jahre nach Unterzeichnung des Dayton-Friedensvertrages noch immer düster aus. Mehr als fünf Milliarden Euro Hilfs- und Entwicklungsgelder sind seit 1995 in das bergige Land mit dem kleinen Adria-Zugang geflossen. Doch bis heute sind es weiterhin die unzähligen NGO, Botschaften, Institutionen wie der Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen oder die von der Nato geführte Bosnien-Schutztruppe Sfor, die die aussichtsreichsten Jobs anzubieten haben.

Auch Sanja arbeitet regelmäßig als Übersetzerin für die spanische Botschaft. Spanisch hat sie im mexikanischen Cancun gelernt, wo sie 1992, während der Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen, gemeinsam mit ihrer Mutter Unterschlupf bei Verwandten fand. Sie will nicht ausschließen, dass sie nach dem Abschluss ihrer Diplomarbeit erneut ins Ausland geht. Im Gegenteil: »Wenn ich ein Stipendium für ein Postgraduiertenstudium bekäme, würde ich es sofort annehmen – egal, ob in Spanien, Frankreich oder England.« Selbst eine weitere Fremdsprache neben Spanisch und Englisch würde sie dafür lernen. Und wenn sie ein Angebot für einen Arbeitsplatz in der florierenden Tourismusbranche von Cancun erhielte, würde sie nicht lange zögern und gehen.

Mit dieser Haltung steht Sanja nicht allein. Die Schlangen vor den Botschaften der EU-Staaten in Sarajevo sind lang. Die klassischen Einwandererländer USA, Kanada, Australien und Neuseeland zählen ebenfalls zu den begehrten Ausreisezielen der jungen Bosnierinnen und Bosnier. Vor allem flexible, ungebundene Leute wie Sanja zieht es in die Ferne – angesichts der weitgehend ungebrochenen Herrschaft jener Parteien, die 1992 den Krieg anzettelten, kein Wunder. Wenn die Elterngeneration ihnen schon die Kindheit verpfuscht hat, warum sollten sie sich auch noch die Zukunft von engstirnigen Nationalisten verbauen lassen?

Auch Kevin Sullivan von der Protektoratsbehörde des Hohen Repräsentanten (OHR) hat darauf keine Antwort. Als Sprecher für Wirtschaftsfragen ist es eigentlich seine Aufgabe, Optimismus zu verbreiten. Doch manchmal fällt das selbst dem in einer Arbeitersiedlung in Glasgow aufgewachsenen Schotten schwer. So liegt Bosnien unter den Staaten des EU-Balkan-Stabilitätspaktes auf dem vorletzten Platz; nur Moldawien rangiert bei den wichtigsten wirtschaftlichen Indizes noch hinter dem Nachkriegsland. »Wenn Bosnien eine natürliche Person wäre, wäre das Land heute schon bankrott«, formuliert Sullivan etwas umständlich das, was selbst Wirtschaftslaien nach einem kurzen Blick auf die Statistiken sofort auffällt. Ohne Hilfe von außen ist Bosnien weiterhin nicht lebensfähig.

Die privaten Investitionen etwa betragen nur ein Zehntel von dem, was Betrieben in Kroatien an operativem Kapital zur Verfügung steht; das Nachbarland ist nach der Aufnahme Sloweniens im Mai nächsten Jahres der aussichtsreichste EU-Kandidat unter den früheren Teilrepubliken des sozialistischen Jugoslawiens. Das bosnische Außenhandelsdefizit lag in der ersten Hälfte dieses Jahres bei fast einer Milliarde Euro, mit Exporten von nicht einmal 400 000 Euro. Jeder Zweite zwischen Mostar und Doboj hat offiziell keine Arbeit. Weitgehend vergeblich wartet man auf zahlungskräftige ausländische Investoren, nicht nur in der muslimisch-kroatischen Föderation. In der serbisch dominierten Republika Srpska, der kleineren der beiden beim Dayton-Friedensschluss 1995 geschaffenen bosnischen Entitäten, sieht die Lage sogar noch schlechter aus. Hier liegt das monatliche Durchschnittseinkommen unter 200 Euro.

OHR-Sprecher Sullivan, der das Land seit seiner Zeit als Kriegsreporter für die australische Nachrichtenagentur United Press International (UPI) kennt, lässt trotzdem nicht locker: »Wenn ich die frisch sanierten Hochhäuser hier sehe, die 1993 noch Scharfschützen als Schießstand dienten, kann ich gar nicht anders, als mich zu freuen.« Sullivan beharrt darauf, dass in den letzten acht Jahren erhebliche Fortschritte gemacht worden seien. Für einen Abzug der Protektoratsbehörde der internationalen Gemeinschaft allerdings, wie sie seit dem Sommer vor allem von einheimischen Politikern gefordert wird, sieht er die Zeit noch nicht gekommen. »Zuerst müssen die Parlamente jene Gesetze verabschieden, die Bosnien unwiderruflich auf den Weg in die Europäische Union bringen.«

Die Behörde des EU-Außenhandelskommissars Chris Patten arbeitet derzeit an einer Studie, die Bosniens Voraussetzungen für ein Stabilisierungs- und Assozierungsabkommen mit der EU prüft. Ganz oben auf der Liste steht dabei die Einführung einer einheitlichen Mehrwertsteuer. Doch abgesehen davon, dass völlig ungewiss ist, ob Bosnien die strengen Kriterien erfüllen kann, bilden auch diese Abkommen erst die Vorstufe zu einer späteren Aufnahme in die Union – ähnlich den Europa-Verträgen, die Anfang der neunziger Jahre mit den heutigen osteuropäischen Beitrittsländern abgeschlossen wurden. Darüber hinaus müssen die geplanten Verträge von allen EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert werden, was Jahre dauern wird. Länger jedenfalls, so viel ist heute schon sicher, als das ehrgeizige Datum 2009, das Ministerpräsident Terzic kurz vor dem Westbalkangipfel der EU im Juni in Thessaloniki in Umlauf brachte.

So lange aber will Sanja nicht mehr warten. In einem der meist voll besetzten Cafés in der belebten Innenstadt der bosnischen Hauptstadt nippt sie an ihrem Capuccino und wundert sich, dass so viele ihrer Altersgenossinnen und –genossen das tägliche Herumsitzen überhaupt aushalten können. »Ich würde wahnsinnig werden, wenn ich nicht selbst die Initiative ergreifen würde, um aus meinem Leben was zu machen.«