Wer pumpt, ist Optimist

Schulden machen kann jede und jeder. Auch der moderne Staat. So ist das im Kapitalismus. von georg fülberth

Ein jeder Mensch weiß, wenn er oder sie auch sonst nichts weiß, dass der moderne Kapitalismus sich nur auf der Basis von Schulden entwickeln kann und sofort aufhören würde zu bestehen, wenn das anders wäre.

Ob Hausbau oder Autokauf, es geschieht meist auf Pump. Auch wer etwas zurücklegt, bevor er sich das lange Begehrte leistet, hat mit Schulden zu tun, allerdings nicht mit den eigenen, sondern mit denen anderer Leute. Wer einen Bausparvertrag abschließt, leiht als Gläubiger seinem Finanzdienstleister Geld, der es seinerseits wieder ausleiht.

Ohne Kredite gäbe es viel weniger Investitionen. Schulden heißen in Fachkreisen »Fremdmittel« und gelten sogar als Teil des Kapitals, das zwecks Profiterzeugung aufgewandt wird. Es werden wissenschaftliche Abhandlungen über das Thema verfasst, wie viel Miese für ein Unternehmen optimal sind. Shareholder sind nichts anderes als Gläubiger der jeweiligen Aktiengesellschaft.

Wie eng Schulden mit dem Kapitalismus zusammenhängen, zeigt sich auch daran, dass seit einiger Zeit sogar ein Teil der Geldmenge aus Krediten besteht. Es ist die von den Zentralbanken als »M 3« geführte Größe: langfristige Verbindlichkeiten, die nicht aus Bargeld oder Sichteinlagen bestehen.

Pumpen ist ein Ausdruck von Optimismus. Die Kreditaufnahme beruht auf der Prognose, man werde in Zukunft so gut verdienen (als Privatperson) oder so hohe Gewinne machen (als Unternehmen), dass das Geliehene wieder zurückgezahlt werden kann und noch ein überschüssiges Sümmchen einbehalten werden darf, an das die Privatperson oder der Unternehmer ohne die Fremdmittel nie herangekommen wäre.

Übrigens ist das nicht erst im heutigen Kapitalismus so. Schulden gibt es seit den Anfängen der heutigen Wirtschaftsordnung. Die Schiffe der Venezianer, der Genuesen, der niederländischen und britischen Handelskompanien waren schwimmende Schuldenberge: Anteilseigner hatten sie in der Hoffnung finanziert, ihnen werde etwas Schönes aus der Ferne mitgebracht.

Nur einer soll neuerdings bei diesem allgemein akzeptierten Spiel nicht mehr mittun dürfen: der Staat. Die EU hat ihren Mitgliedsländern auferlegt, sie dürften jährlich nicht mehr als drei Prozent neue Schulden machen, und immer öfter muss ein Finanzminister erklären, weshalb er es wieder nicht geschafft hat, die Vorgabe einzuhalten. Erklärtes Fernziel ist sogar ein vollständig ausgeglichener Haushalt.

Ihn kann man auf zwei Wegen erreichen. Ausgaben werden vermieden und/oder die Steuern erhöht. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) versucht es anders. Auf der einen Seite spart er, um am anderen Ende das bestehende Loch im Etat noch zusätzlich aufzureißen, indem er auf Einnahmen verzichtet.

Was auf den ersten Blick widersinnig erscheint, folgt doch einer Logik. Sie wird klar, wenn man überlegt, weshalb zur Zeit die Staatsschulden so verteufelt werden. Der Öffentlichen Hand wird nicht in erster Linie vorgeworfen, zu üppig auszugeben, sondern zu viel einzunehmen. Arbeiten zu gehen, lohne nicht mehr, weil der Staat zu hohe Steuern verlange. Die Sparerei ist weder ein Selbstzweck, noch entspringt sie irgendeinem fiskalischen Wahn, sondern sie soll dazu führen, die Privathaushalte entlasten zu können. Wenn sie nicht mehr so viel Steuern zahlen müssen, dann freuen sich Vater, Mutter und Kind über den neuen Reichtum, kaufen sich etwas Nettes und schaffen dadurch Arbeitsplätze. Die Kürzung der Staatsausgaben ist nur das Mittel, die Steuersenkung ist der Zweck.

Dieser Operation liegt die Annahme zugrunde, dass Private – seien es Individuen oder Unternehmen – besser mit Geld umgehen können als die Öffentliche Hand. Jeder, der seine Steuererklärung abfasst und sich dabei bemüht, eine möglichst große Rückzahlung zu erhalten, belegt diese Auffassung. Aus dem gleichen Grund sind Sparkuren relativ populär. Alle freuen sich, wenn der Fiskus ihnen etwas übrig lässt. Da die Kürzungen gegenwärtig in hohem Maße die Beamten treffen, ist die Genugtuung derer, die diesem Berufsstand nicht angehören, besonders groß.

Nun sind allerdings Private nicht gleich Private. Das sieht man an der Art der Besteuerung. Sie erfolgt nach dem so genannten Progressivsystem. Wer mehr verdient, muss einen höheren Prozentsatz abdrücken als jemand mit geringem Einkommen. Es ist aber eigentlich alles nicht so wild, denn die Progressionskurve verläuft ziemlich flach. Das heißt, der Steuersatz steigt nicht in gleichem Maß an wie das Einkommen. Außerdem betrifft er nur die direkten Steuern, also diejenigen, die auf das Einkommen erhoben werden. Die indirekten Abzweigungen an den Staat wie etwa die Tabak- und die Mehrwertsteuer sind für alle gleich, schneiden also den Ärmeren ein relativ größeres Loch in die Tasche als den Reicheren. Dennoch machen die Gutverdienenden ein großes Geschrei um den Spitzensteuersatz, der sie angeblich so hammerhart trifft, wandern nach Monaco aus oder fordern eine »flat rate«, eine Absenkung der Belastungen für die höchste Einkommensstufe.

Die 1999 beschlossene Steuerreform, die seitdem in mehreren Etappen durchgeführt wurde und noch wird, kommt diesem Begehren schon sehr nahe. Sie entlastet die Spitzenverdiener mehr als die kleinen Löhne. Da aber der Mindeststeuersatz ebenfalls gesenkt wird, nimmt Hans Eichel an, dass auch die Kleinverdiener glücklich sind.

Wer allerdings so wenig verdient, dass er oder sie keine Einkommensteuer aufbringen kann, gehört in der Regel zu denjenigen, die stärker als andere Leute auf öffentliche Einrichtungen und Zuwendungen angewiesen sind. Dafür aber kann die Öffentliche Hand, die sich ihre Einnahmen ja selbst gestutzt hat, jetzt nicht mehr so viel ausgeben wie bisher. Nur gut, dass es die Rentner gibt. Sie und die Sozialhilfeempfänger dürfen sich wechselseitig beschimpfen, und der Schmerz lässt nach. Das nennt man Akzeptanz.

Zu fragen ist allerdings noch, weshalb das Ganze nicht klappt, weshalb also trotz des Sparkurses die Schulden der Öffentlichen Hand immer größer werden.

Erstens war das irgendwie fast immer so. Schulden sind nämlich nicht nur ein Wesensmerkmal des Kapitalismus, sondern auch des neuzeitlichen Staates. Dieser ist aus der Pumpwirtschaft entstanden. Als der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England (1339–1453) sich nicht mehr auf ein paar kurze Sommerfeldzüge reduzieren ließ, sondern stehende Heere und teuere Kanonen bezahlt werden mussten, nahmen die Könige Anleihen auf und verpachteten im Gegenzug ihre Einnahmen an die Gläubiger. So entstanden die Steuern. Auf den spätmittelalterlichen Börsen waren bald darauf die Staatspapiere gern gehandelte Werte. Und so ist es bis heute geblieben.

Zweitens liegt die Verschuldung der Öffentlichen Hand durchaus im Interesse derjenigen, die am lautesten über sie jammern: der Reichen. Sie verdienen an ihr sogar doppelt. Wenn der Staat die Steuern senkt, behalten sie besonders viel übrig. Muss er sich daraufhin verschulden, so leiht er sich vor allem von den Besserverdienern etwas. Sie bekommen anschließend die anfallenden Zinsen. Ihre Klage über die Staatsverschuldung hat letztlich nur propagandistischen Charakter.

Drittens ist die Grundannahme, die der ganzen Sparerei zugrunde liegt, falsch. Sie basiert darauf, die Privatwirtschaft komme ohne staatliche Investitionen aus. Keynes ist mausetot, aber das tut nichts zur Sache: Auch der marktradikalste Staat muss öffentliche Ausgaben tätigen, um die Konjunktur nicht völlig absaufen zu lassen. Das sieht man am deutlichsten an der Rüstung, aber nicht nur an ihr.

Und weil das so ist, werden Staatsschulden und Sparpropaganda immer nebeneinander existieren.