Polderabend

In den Niederlanden wollen die Gewerkschaften künftig auf höhere Löhne verzichten, die Regierung vielleicht auf Sozialkürzungen. von udo van lengen

In den Niederlanden schmusen sich die organisierten Kollegen von einem Kompromiss zum nächsten, wenn es gegen Soziallabbau geht. Mitte Oktober einigten sich die Gewerkschaften, die Arbeitgeber und die Regierung darauf, die Löhne im kommenden Jahr einzufrieren, und auch im darauf folgenden Jahr sollen die Lohne nicht weiter steigen.

Seitdem wird auch in Deutschland sowohl im Kanzleramt wie bei den Gewerkschaften über das niederländische Vorgehen diskutiert. Schließlich gab es als Gegenleistung für den Lohnverzicht ein Versprechen aus Den Haag: Die Koalition aus Christdemokraten (CDA) und Rechtsliberalen (VVD) und Linksliberalen (D66) überdenkt ihre Pläne, die Leistungen für invalide Arbeitnehmer, Frührentner und Arbeitslose zu kürzen.

Der Handel – Lohnverzicht gegen Reformaufschub – ist ein politisches Signal zugunsten des Poldermodells, einer Art niederländischen Bündnisses für Arbeit. Es wird seit Jahren in ganz Europa bestaunt, verhalf es doch dem Land zwischenzeitlich zu faktischer Vollbeschäftigung. Anfang 2001 meldete die Regierung 184 000 Arbeitslose, bei einer Bevölkerung von etwa 16 Millionen. Seitdem hat das Poldermodell allerdings zumindest im Entstehungsland an Ausstrahlung eingebüßt. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, und das Land erlebte in den letzten eineinhalb Jahren eine politisch unruhige Zeit.

Daran ist vor allem der Aufstieg des Rechtspopulisten Pim Fortuyn verantwortlich, der die harmoniesüchtigen Niederlande in eine grimmige Stimmung stürzte. Politische Konstanten wie die Konsensdemokratie, die beispielhaft im Poldermodell zu beobachten war, wurden plötzlich heftig kritisiert. Die vielen Gespräche zwischen Regierung und Sozialpartnern wurden durch Fortuyns erfolgreiche Propaganda als Kungelrunden in unzugänglichen Hinterzimmern abgewertet.

Der damaligen Koalition aus Sozialdemokraten, Rechtsliberalen und CDA, die in acht Jahren Polderalltag ein stetiges Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatte, kostete die Polarisierung die Macht; Fortuyn brachte es den Tod. Er wurde zum ersten politischen Mordopfer in den Niederlanden seit über 400 Jahren, was die politische Stimmung gegen das Poldermodell und deren vermeintliche Protagonisten noch mehr anheizte.

Das erste Kabinett nach dem Tode des Rechtspopulisten zerbrach bereits nach 87 Tagen an der landesweiten Unruhe. Danach dauerte es ganze vier Monate, bis sich die heutige Regierungskoalition konstituierte. Sie übernahm sich sofort beim Versuch, den Sozialstaat auf eigene Faust umzubauen. Die Koalition von Premierminister Jan Peter Balkenende änderte daraufhin ihre Strategie und nahm nach altbekanntem Muster die Verhandlungen mit den Sozialpartnern wieder auf. Das hierzulande ungewöhnlich erscheinende Konzept – Lohnstopp gegen Reformstopp – ist nichts anderes als die Rückkehr zur Normalität, zur Konsenspolitik vergangener Tage.

Die Mehrheit ist damit zufrieden. Das Parlament in Den Haag bejubelte den Herbstakkord, ein Arbeitgebervertreter sprach von »einer Mega-Investition in die Wirtschaft« und die Gewerkschafter zeigten sich größtenteils zufrieden. Drei verschiedene Gewerkschaften gibt es in den Niederlanden und einzig der Vorsitzende der größten, der Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV), Lodewijk de Wal, mochte keine Freudensprünge vollführen. Dieser Beschluss sei »das Beste vom Schlechten«, entschuldigte er das Ergebnis.

Am vergangenen Mittwoch stimmte trotz aller Kritik innerhalb der FNV eine Mehrheit für das Verhandlungsergebnis. Das politische Signal sei ausschlaggebend für den Herbstakkord, meint de Waal. Denn der niederländische Arbeitsmarkt wird dadurch nicht nennenswert entlastet. Erst 2007 erwarten die Wirtschaftsweisen der Niederlande, organisiert im Centraal Planbureau, dass der Lohnverzicht 35 000 neue Arbeitsplätze schaffen wird. Eine unspektakuläre Zahl, immerhin gibt es 7,7 Millionen Berufstätige.

Das Ja der Gewerkschaften zum Herbstakkord zeigt ihre Abhängigkeit vom Poldermodell. Denn dem Alleingang der Regierung schauten die Arbeitnehmervertretungen ohnmächtig zu. Ohnehin scheinen die niederländischen Gewerkschaften zu Arbeitskämpfen weder bereit noch fähig zu sein, auch wenn ebenso wie in Deutschland rund ein Viertel der Arbeitnehmer organisiert ist. Massendemonstrationen sind in den Niederlanden unvorstellbar, es sei denn, es geht um die Beerdigung eines Rechtspopulisten.

Der christliche Gewerkschaftsbund setzt auf Verhandlungen und Lobbyarbeit im Kabinett. Ihr Vorsitzender Doekle Terpstra findet, dass es keine Schande sei, wenn Gewerkschaftsmitglieder nicht mehr demonstrieren.

Der FNV hingegen verzichtet nicht auf Aktionen. Das letzte Mal mobilisierte er im Oktober zum Streik, als der Herbstakkord noch in letzter Sekunde zu scheitern drohte. Der Großraum Amsterdam-Den Haag-Rotterdam versank daraufhin im Verkehrschaos. Das lag jedoch nicht an den Streikenden, sondern an der niederländischen Eisenbahn, die wegen der Streikdrohung den Zugverkehr nach Den Haag eingestellt hatte. Deshalb strandeten nicht nur die Berufspendler, sondern auch die wenigen Streikwilligen auf dem Weg zur Kundgebung in Den Haag. In der Unternehmenszentrale der Bahn hieß es: »Hätte die FNV den Zugverkehr lahm gelegt, hätte das landesweite Auswirkungen gehabt.«

Die öffentliche Meinung gab trotzdem der FNV die Schuld. »Ich begreife nicht, wie man Druck auf die Regierung ausübt, wenn man mich um fünf Uhr aufstehen lässt«, fasste ein aufgehaltener Reisender die gereizte Stimmung zusammen. Die FNV und ihr Vorsitzender de Wal kennen die fehlende Rückendeckung in der Gesellschaft. »Wer die Unterstützung der Öffentlichkeit verliert, kann den Arbeitskampf nicht gewinnen«, sagte de Wal der Zeit. »Wir wissen, dass Reformen nötig sind. Aber wir wollen daran beteiligt sein. Das haben wir durchgesetzt.«

Politisch sind die Weichen für die Fortsetzung des Poldermodells gestellt. Bleibt die Frage, ob es tatsächlich als Vorbild taugt. Denn die Kritik am Poldermodell lebt bei den Wirtschaftswissenschaftlern weiter.

Für Lei Delsen, Dozent für Allgemeine Wirtschaftslehre an der Universität Nijmegen, ist der Erfolg des Poldermodells schlicht Glück: »Die früheren Lohnkürzungen schufen zwar neue Arbeitsplätze, aber der Zuwachs bestand hauptsächlich aus flexiblen und unsicheren Jobs.« Minimale Anzeichen einer Krise reichten aus, um die Inhaber dieser prekären Jobs in die Arbeitslosigkeit abzuschieben.

Albrecht Kleinknecht, Ökonom an der TU in Delft, hält den Lohnverzicht gar für ein »süßes Gift«. Der Herbstakkord sei die Fortsetzung einer falschen Politik. Wegen der vergleichsweise niedrigen Lohnkosten entfalle der Zwang zur technischen Innovation. Weil dadurch die Produktivität sinke, fielen die Niederlande auf diesem Gebiet gegenüber den anderen europäischen Staaten zurück. Die Lohnmäßigung könne das über kurz oder lang nicht mehr auffangen. Der Ökonom rät daher den Gewerkschaften, höhere Löhne zu fordern.

Trotzdem bleibt bis zum kommenden April alles beim Alten. Dann müssen sich Regierung und Sozialpartner geeinigt haben, welche Leistungen invalide Arbeitnehmer, Frührentner und Arbeitslose in Zukunft erhalten.

Befolgen die Gewerkschaften bei unbefriedigendem Ausgang den Rat von Kleinknecht und erzeugen mit einem Arbeitskampf politischen Druck, müssen sie wohl auf die in Deutschland viel gerühmte Toleranz der niederländischen Gesellschaft hoffen. Auf jeden Fall sollten sie aber zuvor der niederländischen Eisenbahngesellschaft nichts von ihren Plänen verraten.