Das Radio links der Kuh
Zona 8, 2 Calle, 4 Avenida, Nummer 34 bis 57. Wir fahren an den nördlichen Stadtrand von Xela. Eine beklemmende Atmosphäre: dunkle Wolken bauschen sich am Horizont auf, es ist stickig im Wagen, und es ist Regenzeit im Hochland der Provinz Quetzaltenango. Hier in einer trostlosen, aber bewohnten Rohbausiedlung soll sie sein, die illegale Radiostation »Mujb’ab’l Yol’« (»Begegnung der Meinungen«).
Der Sender ist schwer zu finden. Ein Wirrwarr aus Straßen und Trampelpfaden, zweigeschossigen Wohnblöcken, die wie geklont ausschauen. »Fahrt den Weg runter und dann links vorbei an der Kuh«, sagt ein etwa 13jähriger Junge. Tatsächlich, an der Wegbiegung grast in aller Seelenruhe ein Rindvieh zwischen Autowracks und Wäscheleinen. Menschen starren misstrauisch und doch neugierig aus den Fenstern, drücken sich in den Hauseingängen herum.
Fünf Meter weiter wird gerade »Mujb’ab’l Yol’« in feinen Lettern über die Eingangstür gepinselt. Patz nehmen, bitte, am runden Tisch hier im Flur. Kaffee? Gern. Zucker? Ja, auch, haben Sie Zeit? Eher wenig. Humberto Rodas ist ein Mann der direkten Worte und kommt gleich auf den Punkt: »Wir sind nicht autorisiert vom Staat, und wir haben daher keine Sendefrequenz, aber wir akzeptieren es nicht, als Piratensender bezeichnet zu werden. Schließlich stehlen wir nichts, wir geben etwas.« Nämlich der gewöhnlichen Bevölkerung eine Plattform. Und zwar bilingual auf Spanisch und Quiché, einer der hiesigen Indìgena-Sprachen. Im guatemaltekischen Grundgesetz steht das Recht auf freie Meinungsäußerung im Artikel 35 schwarz auf weiß geschrieben, aber eben nur auf dem Papier.
Humberto Rodas sieht mit seinen wilden Locken, mit Vollbart und Campesino-Bluse nicht nur aus wie der personifizierte Freiheitskämpfer, tatsächlich war der 42jährige während des Bürgerkriegs im Untergrund aktiv. Rodas weiß, wie Radiomachen funktioniert, denn als 1987 der Piratensender La Voz Populares an den Start ging, war er mit von der Partie. La Voz, wie der Sender damals genannt wurde, war gegen Ende des Bürgerkrieges die Stimme der linksgerichteten URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca) – von den einen als Rebellensender verurteilt, von den anderen verehrt und gehört. Denn die Massenmedien waren gleichgeschaltet und politische Abweichler hatten keine Stimme. Zwei Jahre nach der offiziellen Beendigung des Konflikts im Jahr 1996 trat Mujb’ab’l Yol’ das Erbe von La Voz an. Und Humberto Rodas übernahm die Aufgabe des technischen Leiters.
Im Senderaum stehen ein ausrangiertes Schreibpult und ein einfaches Holzbrett, aufgebockt als Tisch, ringsherum billige Plastikstühle, die nackte Glühlampe macht es nicht gerade gemütlicher. Aber darum geht es hier nicht, das Interieur spielt die geringste Rolle. Wichtiger ist die Ausstattung mit zwei kleinen Lautsprechern, zwei Ghettoblastern und einem Mischpult – ein kümmerliches technisches Equipment, das sich auf jeder westeuropäischen Studentenparty finden lässt. Ein Rascheln, ein Flüstern, ein letztes Räuspern, dann ist Maria auf Sendung. Sie spricht für die Frauen, und zwar von der katholischen Kirche. Es ist ein kluger Schachzug des Senders, mit Maria zusammenzuarbeiten. »Wegen des internationalen Einflusses, besonders der EU und des Vatikan, traut sich die Regierung nicht an die Kirche heran. Mit den Katholiken haben wir schon immer eng zusammengearbeitet. Wir geben ihnen die Hardware, sie teilen mit uns die Software: ihre Frequenz«, grinst Humberto.
Dass Sender wie Mujb’ab’l Yol’ in die Illegalität gedrängt werden, liegt an der Regierungspolitik. Einen legalen Status besitzt der, der eine Sendefrequenz erwirbt, und die wird für viel Geld »verlost«. 500 000 Quetzales (rund 62 000 Euro) kostet die Frequenz für eine Stadt, eine Millionen Quetzales für ein Bundesland, und wer in ganz Guatemala senden will, muss vier Millionen Quetzales hinblättern. Für illegales Senden werden zwischen 10 000 und 100 000 Quetzales Strafe verhängt. Das sind Unsummen, die sich eine kleine lokale Radiostation niemals leisten kann. Hintergrund dieser »Radio-Klassenlotterie«: »Das guatemaltekische Volk soll nicht informiert, die Opposition gespalten werden. Ansonsten könnte sie sich ja zusammenrotten«, erklärt Tino Recinos, Organisator des Senders. Der zierliche 36jährige Mann, der 15 Jahre lang als Guerillero in den Wäldern lebte, strahlt Ruhe und Gelassenheit aus.
In den letzten Jahren wurden immer wieder illegale Sender von der gerade scheidenden Regierung der konservativen rechtsgerichteten FRG-Partei geschlossen. Die Radiobetreiber wandten sich nach diversen Schikanen an die EU. Tino: »Im Friedensvertrag steht ganz deutlich: Indìgenas haben das Recht auf eigene, freie Kommunikation. Aber die Vereinbarungen werden nicht eingehalten.«
Besonders das spanische Entwicklungshilfe-Projekt Agencia Espanola de Cooperacion International engagiert sich für die kleine Radiostation in Xela mit einer einmaligen Förderung von 30 000 Euro und einer Qualitätsprüfung der Inhalte. Danach werden die Kapazitäten festgestellt: Wie sieht die praktische Arbeit aus? Wie steht es mit der technischen Ausrüstung? Gibt es einen Arbeitsplan, und wenn ja, in welchem Rahmen? Kann der Sender überhaupt etwas bewegen und Leute erreichen, motivieren?
Der Check-Up dauert rund sechs Monate, und wenn sich Mujb’ab’l Yol’ bewährt, dürfte die Finanzhilfe um ein Vielfaches höher sein, um die Weiterentwicklung und vielleicht auch endlich den legalen Status des Senders zu garantieren. Die Unterhaltskosten pro Monat belaufen sich auf rund 9 000 Quetzales, was etwa 1 050 Euro entspricht.
Ohne die Hilfe aus dem Ausland fristeten die Radiomacher früher ein gefährliches Dasein, aber Mujb’ab’l Yol’ hatte schließlich eine praktikable Idee: Mit vier anderen Basisradios, die über offizielle Frequenzen verfügen, haben sie sich zusammengeschlossen, um die Kräfte zu bündeln. Schwächere Sender profitieren davon, insgesamt wird eine größere Reichweite erzielt. »Wir allein senden nur in Xela und im direkten Umland, mehr gibt unsere Ausrüstung gar nicht her.«
Es gibt mehr als 250 organisierte Radiosender im Land. Humberto Rodas erklärt: »Gemeinsam haben wir vor einem Jahr einen Gesetzesentwurf eingereicht, der auch kleinen, lokalen Sender einen offiziellen Status garantieren soll. Aber bisher ist nichts passiert, und wenn wir anfragen, heißt es nur: ›Manana, manana.‹« Kein Wunder, seit Monaten wird der Entwurf im Kongress blockiert, dessen Vorsitz bisher der frühere General der FRG, Ephrain Rios Montt, innehatte. Trotzdem beschränkte sich die FRG-Regierung darauf, die Radios zu illegalisieren und Geldstrafen auszusprechen. »Wir sind durch den Zusammenschluss einfach zu groß geworden. Ein tätlicher Angriff auf eine einzelne Station bedeutet einen Angriff auf uns alle. Das können sich die nicht erlauben«, sagt Rodas.
Sender wie Mujb’ab’l Yol’ sind deshalb so wichtig, weil TV und Printmedien in Guatemala nicht weit verbreitet sind. Auf dem Land gibt es bis 80 Prozent Analphabeten, da liest niemand die Zeitung. Und wer kann sich schon einen Fernseher leisten? »Aber Radios findest du noch im letzten Dorf«, sagt Humberto. »Wenn es so etwas wie Demokratie geben soll, müssen wir aufklären, indem wir senden.« Auch illegal.
In Sololá sollte im Sommer auf Betreiben der FRG-Regierung ein lokaler Sender geschlossen werden, was aber von 3 000 wütenden Demonstranten verhindert wurde. »Es gibt heute weltweit eine Demokratiebewegung, wir sind nicht allein und haben kein typisch guatemaltekisches Problem. Heute gibt es ganz andere Kommunikationsmittel, und ich bin froh, dass die Aufmerksamkeit weltweit gestiegen ist. Die Leute sind heute viel aufgeklärter und kritischer, und darin liegt unsere Chance«, meint Humberto Rodas. Wer im Bürgerkrieg La Voz hörte, galt gleich als Terrorist. Heute haben auch regierungsferne Projekte einen einigermaßen legalen Status, und die Zuhörer werden nicht mehr kriminalisiert.
Politik ist kein Tabu mehr in der Öffentlichkeit. Während der heißen Phase des Wahlkampfes in diesem Herbst ließ der Sender alle Parteien zu Wort kommen, auch die ehemaligen Gegner. Denn nur so könne Demokratie funktionieren, gleiches Recht für alle und Aufklärung. »Wir haben uns neutral verhalten, wir sind unpolitisch und darum geht unmittelbar keine Gefahr von uns aus. Aber wir sprechen eine direkte Sprache und nicht wie viele, aus Angst, hinter vorgehaltener Hand«, sagt Humberto Rodas. Tino Recinos bleibt skeptisch: »Ephrain Rios Montt trauen wir alles zu.« Er könnte die Chance ergreifen, erneut zu putschen und eine alte Rechnung zu begleichen. Deshalb sind sie vorbereitet. Auf eine plötzliche Flucht ins Exil oder zurück in die Berge – ein Leben im Widerstand, wieder mal.
Guatemala schlingert weiterhin, wenn auch die Präsidentschaftswahlen am 9. November verhältnismäßig ruhig verliefen und die Wahlbeteiligung hoch gewesen ist. Jetzt, da die FRG die Wahl verloren hat, verliert ihr Kandidat Montt die Immunität als Abgeordneter, und ein internationaler Haftbefehl tritt womöglich in Kraft. Von dem ultrarechten Hardliner geht keine wirkliche Gefahr mehr aus. Aber auch der vorläufige Wahlsieger, der neoliberale Oscar Berger, der als Bürgermeister der Hauptstadt seine politische Karriere begann, ist eher ein Symbol des Glücks im Unglück. Glück, weil Montt nur eine Minderheit indoktrinieren konnte. Unglück, da nun wieder Wirtschaftsmagnaten und Großgrundbesitzer das Land regieren könnten, denn Bergers Gana ist eine große Allianz aus nationalen, rechten und konservativen Parteien. Ende des Jahres, am 28. Dezember, wird es eine Stichwahl zwischen Berger und dem Sozialdemokraten Alvaro Colom von der Une geben. Beide haben keine absolute Mehrheit zustande gebracht, die eine guatemaltekische Regierung braucht.
»Wir hoffen das Beste!« grinst Tino Recinos und steht auf. Er führt uns durch das Haus. Alte Poster aus Guerillazeiten, Madonnenbilder und ein speckiges Filmplakat pflastern die Wände. Die drei Volontäre – Bronwyn aus Australien und Elli sowie Marco aus den USA – gehen vorbei. Die jungen Frauen begleiten eine Radioaufzeichnung, Marco steht draußen auf der Leiter und verschönt mit geübtem Pinselstrich die Fassade. Hilfe und Interesse gibt es genug, und selbst viele Jugendliche aus Xela schauen vorbei. Sie finden hier eine Aufgabe und einen kleinen Treffpunkt. »Erst haben wir direkt aus der Großstadt gesendet, aber die Station platzte aus allen Nähten«, erzählt Tino und zeigt den Grund: Mehr als 1 500 Bücher aus der Bürgerkriegszeit sind hier eingelagert; gern würde er eine Art Museum einrichten, damit die schlimme Zeit des Krieges nicht in Vergessenheit gerät.
»Hier, kommt mit, ich gebe euch noch etwas auf den Weg«, grinst Humberto Rodas und schiebt uns in Richtung Studio. Hier stehen ein neuer Computer und eine Technik, die eines Radiosenders würdig ist. Rodas kichert, während er den Computer hochfährt und an zahlreichen Knöpfen dreht. Dann erschallt klirrend ein Kinderlied: »Mein Papa, meine Mama wollen Rios Montt umbringen, und wenn ich groß bin, werde ich dasselbe tun!« Das Lied ist eine Parodie. »In den Bussen spielte die FRG während des Wahlkampfes dieses Lied; natürlich mit anderem Text, um die einfachen Leute mit der eingängigen Melodie zu ködern.« Geschafft hat sie es nicht. Die Regierung ist abgewählt, und Leute wie Humberto Rodas sind ein bisschen optimistisch.
»Globalisierung kann gefährlich sein, aber Guatemala darf den internationalen Anschluss nicht verlieren«, sagt er zum Abschied, »Wir müssen nach vorn blicken und für mehr Gerechtigkeit kämpfen.« Der Kampf gehe also weiter, meint Tino Recinos, aber heute mit anderen Mitteln.