Die Wunde von Bern

Wie Ungarn 1954 die 2:3-Niederlage im WM-Finale gegen Deutschland erlebte und warum sie bis heute nicht verarbeitet wurde. von martin krauss

Diese Geschichte beginnt in einem ungarischen Ort nordwestlich von Budapest namens Budakeszi, von dem man manchmal auch den deutschen Namen Wudigess liest. Ein Metzger namens Fischer verließ 1946/47 diesen Ort, und wurde kurze Zeit später im schwäbischen Gerabronn Vater von Joseph Martin, in Ungarn Jóska, in Deutschland Joschka gerufen. Der, mittlerweile deutscher Außenminister, erinnerte sich und vor allem seine ungarischen Zuhörer, als er vor vier Jahren Budakeszi besuchte, daran, wie er seinen Vater weinen gesehen hatte.

Das war am 4. Juli 1954, und Vater Fischers Tränen galten der Niederlage der ungarischen Fußballnationalmannschaft. Die Deutschen hatten das »Wunder von Bern« vollbracht, »die Gründung der Bundesrepublik im Wankdorf-Stadion zu Bern« vollzogen, wie der Politikwissenschaftler Arthur Heinrich nachwies, und damit waren sie wieder wer.

Die ungarische Mannschaft aber war niemand mehr. Sie war als »der größte Favorit aller Zeiten« in das Turnier gegangen, wie es die Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp formulieren, und sie hatte mehr als nur ein Spiel verloren.

»Wir Ungarn weinen noch immer, wenn wir an dieses Fußballspiel denken«, sagt György Szepesi, der als Radioreporter das Spiel kommentierte.

Ferenc Puskás, der große Star der ungarischen Mannschaft, sagte später: »Während meiner 30jährigen Profilaufbahn habe ich auf dem Platz nur einmal geweint, nach der 2:3-Niederlage im Berner Wankdorf-Stadion.«

Und für den damaligen ungarischen Torwart, Gyula Grosics, stellt sich heute noch besondere Erregung ein. »Wenn ich heute die Bilder von damals sehe, wird mir immer noch der Hals eng, und mein Puls steigt auf 160«, sagte er vor zwei Jahren bei einem Pressegespräch.

Grosics wurde damals vom offiziellen Ungarn zusammen mit dem Trainer Gusztav Sebes als Hauptschuldiger ausgemacht. 1955 wurde Grosics beim angeblichen Schmuggeln verhaftet – die letztlich fallen gelassene Anklage lautete auf Spionage und Landesverrat – und 15 Monate lang unter polizeiliche Beobachtung gestellt. Am schlimmsten war die Verbannung nach Tatabanya zu einem unbedeutenden Provinzverein. »Tatabanya war ein Nichts«, sagte Grosics jüngst dem stern. »Ich blieb bis zum Ende meiner Karriere dort.«

Ferenc Puskás ist bis heute davon überzeugt, dass Grosics die Schmuggelware, die man bei ihm angeblich fand, untergeschoben wurde.

Trainer Sebes hingegen blieb noch im Amt, erst 1956 wurde er geschasst. Dabei war Sebes bei den meisten ungarischen Fans verhasst. Schließlich war Sebes nicht nur Nationaltrainer, sondern auch stellvertretender Sportminister und verkörperte somit auch die politische Dimension der Niederlage.

Schnell kursierte unter den ungarischen Fußballfans auch das Gerücht, die ungarische Mannschaft, die man »Wunderelf« nannte, weil sie vier Jahre lang kein Spiel verloren hatte, sei an den deutschen Autohersteller Mercedes-Benz verkauft worden. Als Belege galten, dass sich Puskás während des Turnieres in einem Mercedes hatte ablichten lassen und dass Trainer Gusztav Sebes angeblich hatte verlauten lassen, dass er sich einen Mercedes kaufen wolle.

Die Geschichte mit den deutschen Autos ist die Verschwörungstheorie, von der man in Ungarn am häufigsten hört und liest, aber es ist nicht die einzige. Der Schriftsteller Péter Esterházy berichtet in einem großen Essay über Puskás: »Damals munkelte man bei uns, die Deutschen hätten uns umsonst Erbsenpflückmaschinen geliefert, damit wir nicht gewannen.«

Die Empörung über die Niederlage war und ist jedenfalls enorm. Unmittelbar nach dem Abpfiff gingen über 100 000 Demonstranten auf die Budapester Straßen. Eine Straßenbahn wurde um- und Schaufenster wurden eingeworfen, und die Stadtwohnung von Trainer Sebes wurde verwüstet.

Als die Meldungen über die Budapester Ausschreitungen die Mannschaft erreichten, wurde ihre Rückkehr nach Budapest gestoppt.

»Wir fuhren mit dem Zug nach Hause«, sagte Torwart Grosics dem stern. »Wenige Kilometer vor Budapest mussten wir gegen Mittag plötzlich aussteigen, wurden in ein Trainingslager gebracht und durften es den ganzen Tag nicht verlassen. Abends kamen die höchsten Politiker – Rakosi, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, auch der Innenminister und der Militärminister sowie Leute der ungarischen Stasi. Rakosi hielt eine Rede, auch der zweite Platz sei ein schönes Ergebnis, und dann sagte er noch: Niemand von euch soll Angst haben, bestraft zu werden für dieses Spiel. Ich habe den Klang seiner Stimme noch im Ohr. Als dieser Satz fiel, wusste ich, dass er genau das Gegenteil bedeutete. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde.«

Schon schnell waren sich Historiker einig, dass die Niederlage im WM-Finale den Ungarn-Aufstand vom November und Dezember 1956 vorbereitete. Auch die parteikommunistische Lesart der ungarischen Geschichte sieht das so. Der Historiker László Kutassi schrieb 1976, dass nach der WM 1954 »im Land gleichsam ›Volkstrauer‹ ausbrach und die verzweifelte Stimmung von reaktionären Kreisen genutzt wurde, um gegen das volksdemokratische System zu demonstrieren und quasi ein Vorspiel zur Konterrevolution von 1956 zu veranstalten«. Als Ursache für die Niederlage gibt Kutassi an, dass der Sport noch zu sehr in bürgerliche Strukturen eingebettet gewesen sei. »Der Starkult nahm gefährliche Ausmaße an, es gab immer mehr Sportler, die meinten, alles machen zu dürfen«, schreibt er. »Dieser Geist wurde durch die Propaganda gestärkt, die den Sieg unserer Sportler mit nationalistischen Parolen feierte und die ausländischen Gegner herabsetzte.«

Für Gyula Grosics, der sich nach 1989 auch in der Demokratiebewegung engagierte, stellt sich der Zusammenhang von Politik und Fußball anders dar. »Ungarn litt damals unter politischer Unterdrückung, im Fußball holte sich die Bevölkerung die einzigen positiven Erlebnisse. Das war nicht nur eine fußballerische Niederlage, sondern eine nationale Tragödie«, sagte er vor zwei Jahren bei einem Gespräch in Aachen. »Daher war eine ungeheure Enttäuschung zu spüren. Das Unvorstellbare war plötzlich eingetreten: Die Menschen nahmen die Niederlage zum Anlass, um auf die Straße zu gehen und gegen das System zu demonstrieren.«

Wie es zu dem Unvorstellbaren kommen konnte, vermag man in Ungarn bis heute noch nicht sicher zu sagen. Gyula Lorant, Spieler des ungarischen Wunderteams und langjähriger Trainer in der Bundesliga, meinte einmal: »Wir kamen wie die Sieger auf den Platz und hatten schon verloren. Am Ende hieß es 2:3. Wir hatten den Deutschen nur noch die biegsameren Kniegelenke voraus – sonst nichts.«

So selbstkritisch waren die meisten seiner Mitspieler nicht. Ferenc Puskás etwa gab im Januar 1957 dem Fachblatt France Football ein Interview, in dem er zwei Vorwürfe erhob: Zum einen hätten die Deutschen in der ersten Begegnung der WM, die 8:3 für Ungarn endete, wie ein Exekutionskommando agiert. Zum anderen seien die Deutschen gedopt gewesen. Puskás bestritt später die Authentizität des Interviews, entschuldigte sich und gab sich 1964 sogar für eine Versöhnungsgeste mit Sepp Herberger her.

Dabei waren die Dopingvorwürfe nicht ganz so absurd, wie es zunächst scheint. Auf Bitte des DFB-Trainers Sepp Herberger erhielt die deutsche Mannschaft vor dem Finale eine Traubenzuckerlösung injiziert, und zwar mit einer nicht sterilen Mehrfachspritze. Das hatte zur Folge, dass beinah die gesamte Mannschaft an Gelbsucht erkrankte, an deren Folgen zumindest zwei Spieler von damals – Richard Herrmann aus Frankfurt und Werner Liebrich aus Kaiserslautern – verstarben.