Terror als Strafgericht

Das Netzwerk al-Qaida hat sich reorganisiert. Die neue Terroroffensive soll vor allem die islamischen Gesellschaften polarisieren. von jörn schulz

Die Fähigkeit zur Selbstkritik gehört nicht zu den Eigenschaften, für die George W. Bush gerühmt wird. Bei seinem Besuch in Großbritannien rang sich der US-Präsident in der vergangenen Woche jedoch zu einem ungewöhnlich offenen Eingeständnis durch: »Ihre Nation und meine haben in der Vergangenheit zu bereitwillig Unterdrückung um der Stabilität willen toleriert.« Um den »Export von Gewalt« aus dem Nahen und Mittleren Osten zu beenden, müsse nun die Demokratisierung der Region vorangetrieben werden.

Bereits Ende Oktober hatte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld überraschend festgestellt, dass man im Kampf gegen al-Qaida nur »gemischte Resultate« erzielt habe. Rumsfeld beklagte, das Pentagon könne »nicht schnell genug verändert werden, um den Krieg gegen den Terror erfolgreich führen zu können«.

Die schwerfällige Militärmaschine der USA hat sich als unfähig erwiesen, das Netzwerk al-Qaida zu zerschlagen. Den Verlust ihrer afghanischen Ausbildungslager und die Schwächung der zentralen Führungsstruktur hat al-Qaida nach einhelliger Ansicht der US-Ermittler kompensieren können. Aus einer zentral gesteuerten Organisation sei eine »Bewegung locker verbundener Gruppen geworden, geführt von talentierten Einsatzkoordinatoren, die lokale Handlungsentscheidungen treffen«, heißt es in einem der Tageszeitung Boston Globe zugespielten US-Geheimdienstbericht.

Zumindest in dieser Hinsicht war der 11. September 2001 für al-Qaida ein Erfolg, denn die Anschläge machten Ussama bin Laden und Ayman al-Zawahiri, den Ideologen und Strategen der Gruppe, zu unangefochtenen Führern des »globalen Jihad«. Ihre Erklärungen werden auch von Gruppen als Handlungsanweisung akzeptiert, die keine direkte Verbindung zur al-Qaida haben.

An der Anschlagserie in Istanbul war die al-Qaida-Führung aber wahrscheinlich direkt beteiligt. Die notwendigen logistischen Kapazitäten würden eine lokale Terrorgruppe überfordern, und die Attentate verknüpften in symbolischer Weise die Ziele der al-Qaida. Obwohl sich die Islamisten den Irak als neues Schlachtfeld auserkoren haben, war die zeitliche Verknüpfung mit dem Besuch Bushs in Großbritannien nur ein zusätzlicher Propagandaeffekt, die Attentate müssen aber schon lange vor der Ankündigung des Staatsbesuchs vorbereitet worden sein.

Die al-Qaida-Führung orientiert ihre Anhänger auf einen langjährigen terroristischen Zermürbungskrieg, gegenwärtig will sie vor allem ideologische Lehren erteilen und die islamischen Gesellschaften polarisieren. Die Attentate in Istanbul zielten auf »Juden und Kreuzfahrer«, ebenso aber auch auf jene Muslime, die mit ihnen kooperieren oder die Demokratie der Sharia vorziehen. Sie gelten als letztlich gefährlichster Feind, denn sie zersetzen die Ummah, die imaginierte islamische Gemeinschaft, von innen.

Dieses Feindbild kann sich auf die in den konservativen Bevölkerungsschichten und den herrschenden Oligarchien der islamischen Welt weit verbreitete Ansicht stützen, dass es einen kulturellen »Krieg gegen den Islam« gebe. Im Oktober erklärte der damalige malaysische Premierminister Mahathir Mohammad (Jungle World, 45/02), dass Demokratie und Menschenrechte jüdische Erfindungen seien, und brandmarkte deren muslimische Verfechter als »Gesinnungsjuden«. In ähnlicher Weise werten die Islamisten die laizistische Verfassung und die prowestliche Politik der Türkei als Folge einer jüdischen Verschwörung.

»Dies sind die Taten einer Handvoll von Juden der Dunma (des verborgenen Staates), die die Angelegenheiten der Türkei kontrollieren und ihr enorme Qualen zufügten«, verkündet Abu Ziyaad auf der islamistischen Webseite Jihad Unspun. Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und die nationalistische Oligarchie werden zu Anhängern des jüdischen Häretikers Shabatay Zewi erklärt, dessen Gemeinde im 17. Jahrhundert zum Islam übertrat. Diese Dunma (Konvertiten) praktizierten ihren alten Glauben weiter, was es ermöglicht, alle Säkularisten zu jüdischen Agenten zu erklären.

Diese Sichtweise ist Allgemeingut in islamistischen Zirkeln. Die türkische Sektion der Hizb al-Tahrir machte die »Juden der Dunma« sogar für das Erdbeben von 1999 verantwortlich. »Gott sandte es«, um »das Volk zu warnen, damit es umkehrt und Gott fürchtet«. Dieses Strafgericht habe auch Zivilisten treffen müssen, denn »die Gesellschaft hat die Möglichkeit, der unterdrückenden Gruppe ihre Reaktion zu zeigen. Dies ist jedoch nicht geschehen.«

Der Gedanke, selbst nachzuhelfen, wenn Gott nicht genügend Katastrophen schickt, liegt für islamistische Extremisten nahe. Während die Hauptströmung des Islamismus Muslime, die keine gebührende Begeisterung für die Sharia zeigen, als verirrte Schäfchen sieht, die es auf den rechten Weg zurückzuführen gilt, sind sie für die al-Qaida ein legitimes Angriffsziel. Der Anschlag in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad, bei dem Anfang November 18 Menschen starben, richtete sich gegen einen Gebäudekomplex, der überwiegend von arabischen Migranten bewohnt wurde, die für westliche Firmen arbeiteten.

Auch der Anschlag auf die Istanbuler Filiale der Bank HSBC richtete sich wohl nicht allein gegen ein Symbol der britischen Wirtschaft, sondern gegen das als besonders perfide Zersetzungsstrategie gewertete Engagement der Bank in der so genannten islamischen Wirtschaft. »The world’s local bank« bietet Anlagemöglichkeiten an, die von einem Shariah Supervisory Committee auf ihre Übereinstimmung mit dem Zinsverbot überprüft werden. »Das islamische Gesetz verlangt nicht, dass der Verkäufer eines Produkts ein Muslim ist oder dass seine anderen Dienstleistungen ebenfalls islamisch sind«, meint die Bank. Doch al-Qaida vertritt zweifellos eine andere Ansicht.

Die Terroristen sehen sich als verlängerten Arm Gottes, dessen Strafgerichte die »falschen Muslime« zu einer Entscheidung zwingen sollen. Die Isolierung von der muslimischen Bevölkerungsmehrheit kann dabei in Kauf genommen werden, solange die Übereinstimmung mit dem weit verbreiteten common sense des Antiamerikanismus und Antisemitismus es erlaubt, in allen sozialen Schichten neue Anhänger zu rekrutieren.

In der US-Regierung scheint nun die Erkenntnis gereift zu sein, dass der »Krieg gegen den Terror« nur auf dem politischen und gesellschaftlichen Terrain gewonnen werden kann. Tatsächlich wird sich jede Erfolg versprechende Strategie auf den Widerstand in der islamischen Welt stützen müssen. Doch bei den meisten islamischen Regierungen wird die Unterdrückung weiterhin »um der Stabilität willen toleriert«. Und selbst wenn es zu einem Kurswechsel kommen sollte, bliebe der westliche Kapitalismus, dessen einziges Demokratisierungskonzept die Formel »mehr Handel, mehr Markt« ist, unfähig, gesellschaftliche Emanzipationprozesse zu fördern.

Dies müsste eigentlich das Anliegen der Friedensbewegung und der westlichen Linken sein, die jedoch bislang keine große Hilfe für den antiislamistischen Widerstand in der islamischen Welt waren. Die islamistische Bewegung wird ignoriert, in manchen Fällen sogar als Bündnispartner betrachtet, und häufig wird nicht allein der Krieg, sondern jede Einmischung in islamische Angelegenheiten als rassistische Intervention angesehen. Rassistisch ist jedoch nicht die Kritik am religiösen Rechtsextremismus, sondern die Gleichgültigkeit gegenüber dem staatlich und privat organisierten islamistischen Terror, dessen Opfer zu über 90 Prozent Muslime sind.