Barrikaden vor dem Seminar

Ein Drittel der französischen Hochschulen wird bestreikt. Die Studierenden wehren sich gegen das, was die Regierung unter »Autonomie der Hochschulen« versteht. Die führt nämlich zu Kapitalhörigkeit. von bernhard schmid, paris

Ich verlange, dass man diesem Zirkus ein Ende setzt.« Mit solch markigen Worten zitiert die französische Wochenzeitung Le Canard enchaîné in ihrer jüngsten Ausgabe Präsident Jacques Chirac, der vor versammeltem Kabinett den Bildungsminister Luc Ferry heruntergeputzt haben soll. Da soll Chirac zudem geklagt haben, der ungeschickte Minister habe »einen Saustall in den Universitäten angerichtet«. Denn in der jetzigen Situation »können wir es uns nicht erlauben, Chaos an den Universitäten zu haben«, wo doch ohnehin die soziale Unzufriedenheit allgemein zunimmt.

Solche Befürchtungen verbindet Chirac mit dem studentischen Protest, der mittlerweile ein Drittel der französischen Hochschulen erfasst hat. Am vergangenen Donnerstag demonstrierten in mehreren Städten insgesamt 30 000 Studierende, was noch relativ bescheiden ist. 200 Delegierte aus verschiedenen Landesteilen trafen am vergangenen Samstag an der westfranzösischen Universität Rennes-2 zusammen, um eine »Nationale Koordination der bestreikten Universitäten« ins Leben zu rufen. In ihr sind 27 von insgesamt 90 französischen Universitäten vertreten. Bis dahin hatte es nur lokale Streikkollektive gegeben.

Die Ortswahl ist kein Zufall: Rennes-2 ist die Hochschule, an der die jüngste Streikbewegung ihren Anfang nahm. Ab Anfang November traten zahlreiche Studierende vor allem der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in den Ausstand, nachdem schon in den Tagen zuvor bis 1 000 Teilnehmer bei Vollversammlungen zu verzeichnen waren. Von hier aus kam der Stein ins Rollen: Nach nur zwei Wochen waren bereits 17 Hochschulen vom Streik erfasst.

Warum gerade Rennes, und warum gerade jetzt? Ein Faktor besteht sicherlich darin, dass die bretonische Universitätsstadt eine starke Tradition linker Politisierung aufweist. Ferner sind in Rennes zahlreiche Kunststudierende eingeschrieben, die sich besonders eng mit dem seit sechs Monaten anhaltenden Kampf der intermittents du spectacle, der prekären Kulturschaffenden, verbunden fühlen, ja teilweise selbst zu dieser sozialen Gruppe zählen.

Die Ankündigung von Luc Ferry, dass es künftig eine »Autonomie der Hochschulen« geben soll, ließ und lässt den allgemeinen Unmut rasch wachsen. Denn faktisch gäbe das Projekt den Universitätsleitungen die Vollmacht, sich wie eine Unternehmensführung aufzuführen. Sie würden sich etwa selbstständig um private Finanzierungsquellen bemühen können, natürlich vor allem im Bereich der Wirtschaft. Ferner sollten die Universitätsleitungen weitgehend selbstständig die Einschreibegebühren festlegen können. Demnäch hätten die Hochschulen die Wahl, entweder ihr Angebot und die Studienmittel verkümmern zu lassen oder aber bewusst nur Studenten mit gutem finanziellen Hintergrund studieren zu lassen.

In der Bretagne, wo die Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft nach wie vor viele Agrarbetriebe zum Aufgeben zwingt und deshalb viele Studierende aus finanziell prekären Familien kommen, kann dies nur als Drohung aufgefasst werden. Und nicht nur dort. Ähnlich ist die Wirkung in den Pariser Banlieues, in denen besonders starke Verarmungs- und Ghettoisierungstendenzen wirken. Absolut kein Zufall ist es deswegen, dass sich Mitte November die Banlieue-Universität von Paris-Nord als zweite Hochschule in Frankreich dem Streik anschloss.

In Paris-Nord ist der Streik bisher am radikalsten, was die Aktionsformen angeht. Die ganze vergangene Woche über behinderten Streikposten den Zugang zu Vorlesungssälen, vor einem Ableger der Hochschule in Bobigny wurden Barrikaden errichtet. Hier trifft sich eine spürbare soziale Verzweiflung mit dem hochschulspezifischen Protest. »Man spürte am Anfang noch ein gewisses Zögern der Mobilisierung, weil viele uns sagten: Wenn wir einmal anfangen zu streiken, dann können wir nie wieder aufhören«, sagt Erouan, der in Paris-Nord studiert.

Am vorletzten Samstag nun erklärte Ferry, in dieser Sache stehe »kein Gesetzentwurf auf der Tagesordnung der Regierung oder des Parlaments«. Sein »Autonomie«-Projekt musste er wohl unter Druck von Chirac dementieren. Aber ganz vom Tisch ist es nicht. Die Regierung hat bereits im Juni diesen Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf verabschieden wollen, doch ihn damals angesichts der bereits aufgewühlten sozialen Landschaft – die Streiks gegen die Rentenreform und im Schulwesen hielten an – vorsichtshalber zurückgezogen. Was Ferry nun unternahm, war der zweite Versuch, und der sollte nach zwei oder drei Monaten der »konzertierten Aktion mit den Sozialpartnern« im kommenden Frühjahr verabschiedet werden.

Der halbherzige Rückzug der Regierung hat die Protestierenden nicht gerade beruhigt. Die Befürchtung, mit den nahenden Abschlussprüfungen sowie den Semesterferien im Sommer werde das Projekt dann – nach den Regional- und Europaparlamentswahlen des kommenden Frühjahrs – wieder ausgegraben, ist aber nicht die einzige Motivation der Streikenden.

Immer stärker umstritten ist auch die so genannte LMD-Reform. LMD bedeutet offiziell: Licence, Master, Doctorat. So lautet der französische Titel jener Maßnahmen, die anderswo unter der Bezeichnung ECTS (Europäischer Hochschulbildungs-Raum) durchgesetzt werden sollen. 1998 haben die Bildungsminister mehrerer europäischer Länder im italienischen Bologna beschlossen, eine Angleichung ihrer Bildungssysteme herbeizuführen (Jungle World, 37/03). Bislang nehmen 32 europäische Länder an ECTS teil.

Um die Mobilität einer künftigen gesamteuropäischen Elite sicherzustellen, sollen überall die drei Stufen eingeführt werden, die als Licence (nach drei Studienjahren), Master (nach fünf Studienjahren) oder Doktor (nach mindestens acht Jahren) bezeichnet werden. Zugleich sollen die jeweiligen Studieninhalte, die zu diesen Diplomen führen, in ein Punktesystem umgerechnet werden. So sollen die Studierenden sich so etwas wie ihr eigenes »Studienmenü« zusammenstellen können.

Die Durchsetzung dieser Reform hat in diesem Semester schon an etwa 20 französischen Hochschulen begonnen. An der Universität Rennes-2 sollte sie im kommenden Jahr und an den übrigen französischen Universitäten bis spätestens 2006 eingeführt werden.

Doch die Reform wird von vielen Studierenden wie auch von kritischen Lehrkräften als eine Vorwegnahme der »Autonomie der Hochschulen« erlebt, wie sie Luc Ferry vorschwebt. Tatsächlich erfordert sie bessere pädagogische Angebote, um für eine mobilere Studierendenschaft attraktiver zu sein. Zugleich müssten aber auch Zahl und Umfang von Stipendien zunehmen, um vielen Studierenden diese Mobilität überhaupt erst zu ermöglichen. Sonst trifft sie nur eine recht kleine Elite.

Das würde die Reform teurer machen, doch die Regierung will LMD durchsetzen, ohne einen einzigen zusätzlichen Cent auszugeben. Daher hat bereits jetzt ein Hauen und Stechen unter Fachbereichen ebenso wie zwischen Hochschulen begonnen. Jede Universität versucht, besonders attraktive Studienzweige hervorzuheben, in denen künftig die begehrten Master-Titel erworben werden können. Das geht jeweils auf Kosten anderer Studienzweige oder universitärer Angebote.

Auch ohne die vorerst verhinderte »Autonomie« verhalten sich die Universitäten bereits heute wie konkurrierende Unternehmen, die sich um eine sehr begehrte Klientel reißen. Daran etwas zu ändern, ist nicht einfach.