Brot für den Chef

Korruption, Drogenhandel und Gewalt: Zwei Wärter berichten über die Zustände in den argentinischen Gefängnissen. von jessica zeller

Fast täglich wird über einen neuen Korruptionsskandal oder die Absetzung eines Dienstleiters berichtet, in diversen Zeitungen liest man Scherze über ihre kostenlosen Pizzabestellungen. Einen guten Ruf genießen die argentinischen Ordnungshüter nicht, besonders berüchtigt ist die »Bonaerense«, die Polizei aus der Provinz Buenos Aires. Selbst Argentiniens Präsident Nestór Kirchner spricht öffentlich davon, dass die Polizisten im Lande weniger Freunde und Helfer als vielmehr sich bereichernde Abzocker seien.

Umfragen zufolge würden sich weniger als die Hälfte der Argentinier im Falle eines Einbruchs oder eines ähnlichen Delikts überhaupt an die Polizei wenden. Und auch nach dem Ende der Militärdiktatur blieb die Anzahl der Opfer staatlicher Gewalt hoch. Die argentinische Organisation gegen Polizeigewalt Correpi zählte 1508 Tote infolge staatlicher Gewalt von 1983 bis heute, die Tendenz sei steigend. Meist handelt es sich dabei um arme, männliche Delinquenten, die bei ihrer Festnahme schießfreudigen Polizisten zum Opfer fallen.

Dass Willkür, Korruption und Gewalt mit der Verhaftung nicht enden, wurde erst im vergangenen Monat deutlich. Für die Aufdeckung der Lage in den Strafanstalten Argentiniens sorgten einige Gerichtsprozesse. So erhob der Richter Fernando Maroto im November 2003 gegen leitende Angestellte des Gefängnisses von Magdalena in der Provinz Buenos Aires wegen Bestechlichkeit Anklage. Obwohl der Prozess bisher kaum in Gang gekommen ist, gab es bereits anonyme Morddrohungen gegen den Richter.

Vor allem jedoch die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen und die Aussagen von Gefängniswärtern in der Presse brachten einige Neuigkeiten über die Situation in den Gefängnissen Argentiniens ans Licht: »Hier geht es zu wie bei der Polizei, der Betrieb gleicht einer Mafia.« Der Wärter A ist einer der zwei Angestellten eines Gefängnisses in der Provinz Buenos Aires, die bereits mit der argentinischen Justiz im Kontakt stehen, um über persönliche Schutzgarantien im Falle eines Prozesses zu verhandeln.

Für ihn besteht der einzige Unterschied darin, dass vom Handeln der »Bonaerense« die ganze Gesellschaft betroffen sei, jeder könne mit ihr in Konflikt geraten. Im Gefängnis dagegen beträfen die Ungerechtigkeiten allein die Insassen: »Alles passiert innerhalb des Apparates, damit wird das Stillschweigen der Betroffenen garantiert.«

Klassisch sei der sogenannte runcho, ein wöchentlicher Essenskorb für die unteren Vorgesetzten und Chefs, ergänzt sein Kollege B. in der kritischen argentinischen Tageszeitung Página 12: »Dieser Brauch hat Tradition, und es wundert sich keiner über ihn. Meist mittwochs oder freitags gehen die Dienstoberen in die Vorratskammer und bedienen sich. Mindestens zwanzig Personen pro Gefängnis versorgen auf Kosten des Staates und der Gesundheit von Untergebenen und Gefangenen ihre Familien.«

Zudem sei der Knast ein Umschlagplatz für Drogen: »Der Stoff kommt keinesfalls nur über die Gefängnismauern ins Gebäude, im Gegenteil. Große Geschäfte führen, wie es ihnen gebührt, durch die große Tür, das Eingangstor der Strafanstalt.« Eine andere Form, Drogen an »die Nasen aller« zu verteilen, bestehe darin, in der gefängniseigenen Bäckerei Päckchen mit Rauschmitteln in den Brötchen zu verstecken.

Neben der Verstrickung von Wärtern und Gefangenen in illegale Handlungen bestand in der Vergangenheit nach Aussage der zwei Zeugen das hauptsächliche Druckmittel in der Gewaltandrohung oder im schlimmsten Fall der Ermordung von beteiligten Personen, die die herrschenden Zustände anprangerten. Nicht ohne Grund wollen die beiden Wärter anonym bleiben. Im Juni 2002 wurde der Gefangene Daniel Chocobar Guaimas, der öffentlich Folterpraktiken in den Gefängnissen anklagte, kurz vor seiner Freilassung im Gefängnishof der Strafanstalt von La Plata erschossen. Vorher berichtete Guaimas, dass Mitgefangene beauftragt worden waren, ihn zu ermorden, ihm jedoch stattdessen davon erzählt hatten.

Hernán Larrañaga Rodríguez, ein anderer Kläger gegen die Strafanstalten der Provinz Buenos Aires, erlitt im selben Jahr schwere Verbrennungen in seiner Zelle. Ein Mitgefangener berichtete später davon, dass zwei leitende Angestellte der Haftanstalt mit einem durchsichtigen Kanister den abgetrennten Trakt betreten hätten, in dem sich der Vorfall ereignete.

Die Liste von Anklägern, die später in »Konflikten zwischen den Gefangenen selbst« ums Leben kamen, ließe sich fortsetzen. Wesentlich länger ist jedoch die derer, die von Willkür und Gewalt berichten, deren Anzeigen jedoch nicht in einen juristischen Prozess mündeten. Im Jahr 2002 zählte das Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) in Buenos Aires über 3 000 Anzeigen wegen Folter oder körperlicher Misshandlung in den Haftanstalten Argentiniens. Nur in 30 Fällen landeten die Beschwerden wirklich vor Gericht. Bei 1 062 Anzeigen wurden zwar vorbereitende juristische Schritte eingeleitet, es kam aber bisher zu keiner Anklage. In knapp 2 000 weiteren Fällen wird die Beweislast für einen Prozess als »nicht ausreichend« erachtet.

Selbst das Menschenrechtsbüro der Provinzregierung spricht angesichts dessen von einer »praktisch inexistenten Antwort des Strafsystems auf die Vorwürfe der Folter und Gewalt«. In seinem kürzlich erschienenen Jahresbericht 2002/03 über die Lage der Menschenrechte in Argentinien prangert CELS die Überfüllung der Strafanstalten und Verzögerungen bei den tatsächlichen Verurteilungen der Gefangenen an. Von den insgesamt 46 600 Inhaftierten seien mehr als die Hälfte, in manchen Provinzen gar bis zu 90 Prozent nur in Untersuchungshaft.

Grund für den »irrationalem Anstieg« der Anzahl der Gefangenen um durchschnittlich 30 Prozent in den letzten drei Jahren sei unter anderem die Politik der »harten Hand«. Vor allem in der Provinz Buenos Aires sei es durch rechtliche Verfügungen, eingeleitet vom ehemaligen Gouverneur Carlos Ruckauf von der Peronistischen Partei, erschwert worden, während der Zeit des Prozesses als Angeklagter auf freiem Fuß zu sein.

Die Folge ist CELS zufolge, dass »ein Drittel der Untersuchungshäftlinge wegen Platzmangels in Polizeikommissariaten inhaftiert« sei. Diese illegitimen Maßnahmen würden jedoch die Lage nur verschlimmern und widersprächen zudem der Unschuldsvermutung. Deshalb könne man davon sprechen, dass »die Provinzregierung als einziges Vorgehen gegen Straftaten die Festnahme von angeblich Verdächtigen verfolge«.