Feindbild ohne Feind

Die Rede von der Islamophobie nützt vor allem islamistischen Verbänden. von eberhard seidel

In der gegenwärtigen Islamdebatte macht sich ein Gefühl der Verunsicherung breit: Welche Kritik und welche Fragen an die Muslime und ihre Organisationen sind berechtigt? Wo beginnt die Vorurteilsbildung und Islamphobie?

Wir tun gut daran, es uns mit einer Antwort nicht zu einfach zu machen. Denn nicht nur der weit verbreitete Antisemitismus verweist auf ein hoch problematisches Verhältnis der Deutschen zu einer anderen nicht christlichen Religion. So behauptet der französische Anthropologe Emmanuel Todd in seiner Studie »Vom Schicksal der Emigranten«, dass die Welle rassistischer Gewalt zwischen 1985 und 1995 nichts anderes gewesen sei als eine Reaktion auf die Assimilationsbemühungen der muslimischen Türken in den Jahren zuvor. Weil sie den Deutschen immer ähnlicher geworden seien, habe eine Serie ethnisch motivierter Gewalt eingesetzt, um die Türken zu zwingen, sich in ihrer Identität als Muslime einzukapseln, lautet seine These.

So plausibel die These auf den ersten Blick erscheinen mag, übersieht sie allerdings, dass die zahlreichen rassistischen Übergriffe in den zurückliegenden fünfzehn Jahren rumänische Asylsuchende, katholische Mosambikaner, schwarze Briten, Angehörige konkurrierender jugendlicher Subkulturen, soziale Randgruppen und buddhistische Vietnamesen ebenso getroffen haben wie muslimische Türken oder christliche Araber.

Dennoch bestätigen Vertreter muslimischer Verbände den Befund Todds. Die Furcht und Phobie gegenüber der islamischen Welt, so ist seit Jahren immer wieder zu hören, schlummere in den tieferen Schichten des europäischen Unterbewusstseins. Sie reiche bis in die Zeit der Kreuzzüge, der Reconquista oder der Türken vor Wien zurück und könne jederzeit aktiviert werden. Der Westen brauche ein Feindbild, so die weitere Argumentation, um sich seiner Identität zu versichern und geopolitische Interessen sowie militärische Aufrüstung zu legitimieren. Deshalb habe man nach dem Ende des Ost-West-Konflikts das alte Feindbild Kommunismus durch jenes des Islam ersetzt.

Das sind flotte und nur auf den ersten Blick plausible Thesen. Ihnen stehen ganz andere Erfahrungen entgegen. So zieht zum Beispiel Johannes Kandel, Leiter des Referates »Berliner Akademiegespräche/Interkultureller Dialog« der Friedrich-Ebert-Stiftung, nach Jahren des interreligiösen Dialogs die Bilanz: »Die Rede vom ›Feindbild‹ wird den vielfältigen Initiativen und Bemühungen von Behörden, NGO, Kirchen, Wissenschaft und Medien, Muslimen, die Integration zu erleichtern, nicht gerecht. Sie erscheint oft genug als Strategie, um sich in der Opferrolle zu bespiegeln und von eigenen Defiziten abzulenken.«

Vor wenigen Tagen wurden nun die Ergebnisse einer Umfrage von Leipold und Kühnel zum Verhältnis der Deutschen zum Islam veröffentlicht. Nachzulesen sind sie in dem von Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen Band »Deutsche Zustände 2«. Die Daten ergeben ein widersprüchliches Bild. Was bedeutet es, wenn zwei Drittel der Befragten angeben, dass es ihnen gefalle, dass in Deutschland auch Muslime leben könnten. Zwischen einem »leben können« und einer vollen politischen und gesellschaftlichen Anerkennung der Muslime gibt es bekanntlich einen großen Unterschied.

Und welche Schlussfolgerungen lassen sich ziehen, wenn 46 Prozent der Befragten meinen, der Islam sei eine rückständige Religion, und rund 65 Prozent die Auffassung vertreten, die muslimische Kultur passe nicht in unsere westliche Welt? Ist das bereits eine aggressive und rassistische Abgrenzung vom Islam? Oder ist es eher ein Hinweis darauf, dass es für die Befragten noch viele offene Fragen zur Integration des Islam gibt. Denn auf der anderen Seite sprechen sich rund drei Viertel der Befragten dagegen aus, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte.

Je nach Interesse kann aus den Umfrageergebnissen eine Islamphobie oder aber das Gegenteil herausgelesen werden. Ob sie bereits Beleg für ein verfestigtes antiislamisches Weltbild sind oder eher Ausdruck eines entwickelten Problembewusstseins kann mit der Untersuchung noch nicht abschließend beantwortet werden, sondern verweist auf weiteren Forschungsbedarf. Sicher scheint nur, dass ein Teil der Bevölkerung ein ambivalentes Verhältnis zum Islam hat.

Eines lässt sich allerdings bereits heute feststellen: Die Behauptung, Deutschland und seine Bürger pflegten das »Feindbild« Islam ist ein ideologisches Konstrukt, das in erster Linie den Interessen islamistischer Verbände zuarbeitet. Denn ist der Konsens erst einmal hergestellt, die Islamfeindlichkeit sei das eigentlich dringliche Problem, dann stellen sich andere, unbequeme Fragen zum Beispiel nach der demokratischen Struktur muslimischer Verbände, deren Verhältnis zum Grundgesetz und zu der universellen Gültigkeit von Menschenrechten erst gar nicht. Tatsächlich bestimmen islamistische Gruppen seit Jahren die Agenda und damit, was in Deutschland im Kontext mit dem Thema Islam diskutiert wird und was nicht. So gibt es im interreligiösen Dialog eine ganze Reihe von Themen, die unerledigt bleiben: Menschenrechte, Religionsfreiheit, die Trennung von Staat und Religion, Frauen.

Im Laufe der Jahre hat sich in der Bundesrepublik in der Auseinandersetzung mit islamischen Verbänden ein bedenklicher Kulturrelativismus entwickelt. In der Folge hat die Berichterstattung über den Islam und das muslimische Leben in Deutschland ihre eigenen Regeln entwickelt. Solange sie sich darauf beschränkt, die Toleranz des Islam an und für sich oder die Defizite in der Politik der Anerkennung des Islam zu beschreiben oder über Themen der muslimischen Alltagspraxis zu berichten, gibt es keine Probleme.

Schlagartig erhöht sich der Druck auf Journalisten, wenn sie über die Aktivitäten von Organisationen des politischen Islam berichten. Mal sind es Telefonanrufe zu Hause, mit denen Funktionäre höflich, aber bestimmt auf die angeblich fehlerhafte und islamfeindliche Berichterstattung hinweisen. Mal sind es Versuche, mit hanebüchenen Vorwürfen Gegendarstellungen zu erwirken. Oder muslimische FunktionärInnen suchen Redaktionen persönlich auf, um eine »islamfreundliche« Berichterstattung zu erzwingen, rufen zum Boykott auf oder erstellen schwarze Listen missliebiger Journalisten.

Handfester sind die Reaktionen gegenüber Journalisten muslimischer Herkunft. Da wird schnell der Zutritt zu öffentlichen Veranstaltungen verwehrt oder in hunderten von SMS-Mitteilungen und E-Mails gedroht. Vereinzelt kommt es zur Androhung körperlicher Gewalt und zu körperlichen Attacken.

So intensiv sich die Bundesbürger dem Dialog mit dem Islam widmen, so ungerührt bleiben sie angesichts dieser bedenklichen Entwicklung. Bezeichnenderweise ist die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) bislang die einzige deutschsprachige Zeitung, die das Problem in seiner ganzen Tragweite erkannt hat und in angemessener Ausführlichkeit darüber berichtete. Die Zeitung sieht bereits eine »schleichende Auszehrung der journalistischen Neugier«, die die Pressefreiheit gefährde. Diese Entwicklung erinnert an die jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen dem Sektenkonzern Scientology und Journalisten. Heute erfährt die Öffentlichkeit kaum noch etwas über das Wirken dieser umstrittenen und mächtigen Organisation.

Das öffentliche Desinteresse verlangt nach einer Erklärung. Ganz offensichtlich herrscht in Deutschland bis heute die Auffassung vor, der Islamismus sei kein Problem dieser Gesellschaft, sondern eine Herausforderung, der sich die anderen, Länder wie Algerien, Ägypten, die Türkei, Tunesien, die USA, Frankreich oder Rußland, zu stellen haben. Ignoriert wird dabei, dass die Bundesrepublik seit Jahren eine Operationsbasis militanter Islamisten ist, dass der Islamismus auch hierzulande ein dem Rechtsextremismus vergleichbares antidemokratisches Potenzial darstellt, das in der Lage ist, die Grundlagen der offenen Zivilgesellschaft zu erschüttern.

Das Ausmaß der Defizite der Wahrnehmung und des Problembewusstseins verdeutlicht ein kleiner Exkurs zum Rechtsextremismus und zum Umgang mit dieser Herausforderung. Denn am Beispiel Rechtsextremismus hat die bundesdeutsche Gesellschaft ihre Lernfähigkeit durchaus unter Beweis gestellt.

Lange Jahre hatte die politische Mitte die Mobilisierungsfähigkeit der extremen Rechten unterschätzt und diese zum Beispiel durch den Antiasyldiskurs der achtziger und der frühen neunziger Jahre sogar beflügelt. Erst als rechtsextreme Parteien sensationelle Wahlerfolge feierten und die rassistisch motivierte Gewalt Anfang der neunziger Jahre eskalierte, wurden sich viele bewusst, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Diskurs der politischen Mitte, dem Fehlen einer aktiven Integrationspolitik und den Gewalttaten des rechten Milieus geben könnte.

In der Folge entstanden zahlreiche Initiativen und Programme, um den Einfluss der extremen Rechten zurückzudrängen. Auch das hat die bundesdeutsche Gesellschaft inzwischen gelernt: Auf die ideologischen Führer rechtsterroristischer Kameradschaften muss anders reagiert werden als auf erlebnishungrige rechtsgerichtete Jugendliche, für die der Flirt mit dem Rassismus eine vorübergehende Phase in ihrem Leben sein kann. Hilft bei den einen möglicherweise nur staatliche Repression oder gar ein Organisationsverbot, können bei den anderen sozialpädagogische Maßnahmen größeren Erfolg versprechen. Und während die militant antisemitische NPD in der öffentlichen Debatte zu ächten und zu isolieren ist, lohnt es sich durchaus, sich mit dem gewaltfreien Rechtspopulismus der Schill-Partei auseinanderzusetzen und zu sehen, welches gesellschaftliche Unbehagen sich hinter deren Popularität verbirgt.

Auch wenn Rechtsextremismus und Islamismus nicht gleichgesetzt werden können, da die einen ihre Ungleichheitsideologien völkisch, die anderen hingegen religiös begründen, die einen sich auf das Blut, die anderen auf den Glauben berufen, gibt es Parallelen in der Ablehnung universeller Werte und beides sind totalitäre Ideologien. Um so verwunderlicher ist es, dass bei den Reaktionen auf den Islamismus und den Rechtsextremismus unterschiedliche Standards gelten. Denn anders als bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus hat sich die Gesellschaft bei der Beschäftigung mit islamistischen Organisationen, religiösem Fundamentalismus und den Funktionären noch auf keine gemeinsamen Grundlagen einigen können.

Anders als bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus wird beim politischen Islam seit Jahren der Diskurs mit den Verbandsfunktionären gesucht, die Basis hingegen weitgehend ignoriert. Selbst die Forderung, ein Dialog mit muslimischen Gruppen habe auf Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erfolgen, wird von Islamexperten wie dem Ethnologen Werner Schiffauer als Zumutung empfunden. »Ihnen werden Bekenntnisse zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung abverlangt. Ihnen wird vorgeworfen, sich nicht deutlich von problematischen Positionen abzusetzen, die im Namen des Islam artikuliert werden«, klagt Schiffauer und zieht die Schlussfolgerung: »Der Rechtfertigungsdruck, vor dem islamische Gemeinden sich in Deutschland sehen, erschwert die Entstehung einer demokratischen Diskussionskultur. Er setzt Machtverhältnisse.« Rechtsextremistische und rechtspopulistische Funktionäre dürften diese relativierende Haltung mit Interesse zur Kenntnis nehmen.

Die Folgen der Versäumnisse sind dramatisch: Die Öffentlichkeit weiß heute zu wenig über Inhalte, Struktur, Organisation und Differenzen innerhalb des politischen Islam, seine Nähe, Distanz und Abgrenzung zum Terrorismus. Ein idealer Nährboden für Ängste und Vorurteile. Unter bestimmten gesellschaftlichen und tagesaktuellen Ereignissen kann er erst die Islamfeindlichkeit erzeugen, die von den Blockierern einer offenen Debatte und kritischen Analyse seit Jahren behauptet wird.

Warum wird trotz vieler Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremismus und Islamismus auf diese Formen des politischen Extremismus in Deutschland bis heute so unterschiedlich reagiert? Folgende, vorläufige Erklärungen bieten sich an: Ein Teil der politischen Klasse glaubt die Ressource Islam im Allgemeinen und islamistische Gruppen im Besonderen als kommunitaristisches Netzwerk nutzen zu können, um den Folgen von Arbeitslosigkeit und dem sozialen Niedergang in den Einwanderervierteln entgegenzuwirken. So bietet sich in den französischen Vorstädten und den Einwanderervierteln in Großbritannien, den Niederlanden und in Deutschland ein ähnliches Bild: Jugendliche aus bildungsfernen Familien mit muslimischem Hintergrund gehören zu den Verlierern. Staat und Gesellschaft können und wollen sie nicht mehr integrieren. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Geld für Jugendarbeit, an Mitteln für Fördermaßnahmen im schulischen und im beruflichen Bereich. Was als kostengünstige Variante bleibt, ist eine Politik der Anerkennung der religiösen Identität. Und wenn säkulare Verbände keinen Einfluss mehr auf diese Jugendlichen haben, dann bleiben immer noch die Imame als Gesprächspartner. Ihnen trauen Kommunalpolitiker offensichtlich den Einfluss auf die Ghettos zu, der den inneren Frieden sichern soll. Für dieses Ergebnis ist die Politik offensichtlich bereit, die religiöse Radikalisierung in Kauf zu nehmen.

In den Chefetagen der christlichen Kirchen sieht man diese Entwicklung zum Teil mit Wohlwollen. Wenn soziale Fragen im Kontext der Islamdebatte in religiöse umdefiniert werden, wertet das die eigene gesellschaftliche Stellung wieder auf. Die Kirchen hoffen, mit den Islamisten gleichzuziehen, um dem Religiösen endlich wieder den Platz zukommen zu lassen, den es ihrer Meinung nach verdient.

Und bei einem Teil der Diskutierenden, die biografisch in der ehemaligen Linken verankert sind, bietet sich der Islam als antiimperialistische Projektionsfläche an. Nach dem Niedergang der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt scheinen islamische und islamistische Bewegungen die letzten zu sein, die der Vormachtsstellung der USA und der Alternativlosigkeit des globalisierten Kapitalismus etwas Eigenes entgegensetzen.