Am Leben bleiben

Wie lässt sich von der Erfahrung des Vernichtungslagers erzählen? Über Imre Kertész’ Roman »Liquidation« und Thomas Bernhards »Auslöschung«. von jan süselbeck

Die Germanistin Irene Heidelberger-Leonard bemerkte über Thomas Bernhards letzten Roman »Auslöschung«, ein derartig betiteltes Werk habe sich »nichts weniger als die Fallhöhe der historischen Auslöschung unseres Jahrhunderts zum Maßstab genommen«. Sie bezeichnete den Roman jedoch als »gewollt zynisch, bestenfalls aber geschmacklos« und warf Bernhard vor, hier würden »die Ermordeten ein weiteres Mal ermordet. Liquidation allüberall.«

Es dürfte kein Zufall sein, dass Imre Kertész, der mit 16 Jahren nach Auschwitz deportiert wurde, heute Thomas Bernhard ins Ungarische übersetzt und seinen neuen Roman »Liquidation« genannt hat. Iris Radisch nannte Kertészs Werk in der Zeit zwar nicht »zynisch«, wohl aber »dermaßen zerbrochen und unansehnlich, dass man im ersten Augenblick vor seiner rücksichtslosen Hässlichkeit, narrativen Unfreundlichkeit und Kälte zurückschreckt«.

Doch Kertészs neuer Roman ist nicht etwa »hässlich«, sondern in seiner verschachtelten Erzählstruktur nüchterner Ausdruck des literarischen Versuchs einer komplexen Beantwortung der Frage, ob sich nach Auschwitz noch leben lasse.

Der in der Handlung weitgehend abwesende, weil bereits tote Protagonist, der im Winter 1944 in Auschwitz geborene und nach der Häftlingstätowierung auf seinem Oberschenkel benannte B., verneint diese Frage. Er hat sich mit einer Überdosis Morphium umgebracht, allerdings unter der paradoxen Prämisse, dass »am Leben bleiben« die wahre Rebellion gegen das allgegenwärtige Konzentrationslager sei, zu dem seine Existenz nach Auschwitz geworden ist: »Sich selbst umzubringen ist gleichviel wie / das Leben fortsetzen / täglich von neuem beginnen / täglich von neuem leben / täglich von neuem sterben.«

Das Paradox ist eine erzählerische Grundfigur dieses Romans, der bereits mit den ersten Sätzen das zentrale Problem benennt, dem sich Kunst und Literatur seit Auschwitz gegenüber sehen: dass es eine realistisch darstellbare »Wirklichkeit« nach der Wahrheit gewordenen, millionenfachen industriellen Vernichtung von Menschen gar nicht mehr geben kann. Dieses Verschwimmen der »so genannten Wirklichkeit«, wie der Erzähler des Romans, ein mit dem Nachlass B.s befasster Lektor namens Keserû (deutsch: bitter), sagt, erfasst nicht nur die Wahrnehmung des Überlebenden, sondern alles, was nach Auschwitz ist.

Kertészs Roman wirkt in vielerlei Hinsicht wie ein fernes Spiegelbild von Bernhards Roman »Auslöschung«: Dessen ebenfalls bereits tote Hauptfigur, der »Geistesmensch« Franz-Josef Murau, versucht in einer nachgelassenen fragmentarischen Schrift vergeblich, seinen »Herkunftskomplex«, das von seinen verstorbenen nationalsozialistisch eingestellten Eltern ererbte Schloss Wolfsegg, als Nachfahre der Täter einfach »auszulöschen«. Doch das Erbe der Schuld ist nicht zu tilgen. Auch der »Schriftgelehrte« B. bei Kertész verfasst – seinerseits als Überlebender des Unbeschreiblichen – ein »Manuskript«, das er allerdings post mortem von seiner Ex-Frau Judith auslöschen, ins Feuer werfen lässt. Hier ist es das Erlittene, das die gesamte Existenz des Protagonisten affiziert, jedoch gegenüber Dritten nicht erzählbar ist, ohne der Verharmlosung anheim zu fallen.

B. – »illegal« geboren und »grundlos« am Leben geblieben – glaubt, sein Überleben sei nur dadurch zu legitimieren, dass er »die Chiffre namens Auschwitz entschlüsselte«. Dieses Unterfangen muss scheitern, ist doch auch ihm als Opfer Auschwitz »ein anderer Planet, und wir, die Menschen, die den Planeten Erde bewohnen, besitzen keine Schlüssel, um die aus dem Wort Auschwitz bestehende Chiffre zu entschlüsseln«. Dennoch will B. seinen Vorsatz, an den er »sein Leben gesetzt« hat, erfüllen. Er wählt die gefährliche Methode, »die zerstörerischen Kräfte, den Überlebenszwang, die Mechanismen der Anpassung an sich selber zu registrieren, so wie sich Ärzte früher selbst Gift verabreichten, um dessen Wirkung am eigenen Leib zu erproben«. Die letzte Konsequenz dieser Versuchsanordnung, die die Erkenntnis mit einschließt, dass derjenige, der am Leben bleibe, immer der Schuldige sei, ist eine in ihrer bitteren Kürze schon wieder komische Abschiedsnotiz B.s: »Seid mir nicht böse! Gute Nacht!«

Zurückgelassen hat B. eine offenbar parallel zu seiner vernichteten »Anklageschrift gegen das Leben« entstandene »Komödie in drei Akten« mit dem Titel »Liquidation«, die Keserû an sich gebracht hat. Ist es eine Komödie, ist es eine Tragödie? Die Antwort gibt Adornos viel zitiertes Diktum des Lachens über die Lächerlichkeit des Lachens und über die Verzweiflung: »So wenig Kunst mehr heiter ist, so wenig mehr ist sie, angesichts des Jüngstvergangenen, ganz ernst.« Oder, in den Worten B.s: »Der Überlebende, sagte er, sei nicht tragisch, sondern komisch, weil er kein Schicksal habe.«

Als selbst ernannter Nachlassverwalter liest Keserû das prophetische Theaterstück immer wieder und zitiert Szenen daraus, die unheimlicherweise nach dem Tod B.s tatsächlich geschehen sind. Figurieren doch in diesem Text Keserû und alle wichtigen Bekannten des Verstorbenen, deren »wirkliche« Dialoge B. vorwegnahm und aus dem Grab heraus zu verlachen scheint. Mit der nicht unkomischen Folge, dass Keserû als »Wirklichkeit« gewordene Komödienfigur zusehends selbst Probleme mit der Annahme jener »Wirklichkeit« bekommt, in der er nun weiter existieren muss.

Diese vertrackte Durchdringung von »Fiktion« und »Wirklichkeit« macht den fast schon zu mathematischer Formelkürze verdichteten Roman Kertészs zu dem, was man wohl, wäre nicht auch dieses Signet fragwürdig geworden, »große Literatur« nennen müsste. Trotz seines tiefschwarzen Themas ist dieser Text als humoristisches Planspiel lesbar.

Der Text entspringt der »Zeugensicherheit des allzeit ungerührten Blicks«, den Keserû allein »wirklichen Schriftstellern« wie B. zuspricht, der – wie Kertész – die Werke Thomas Bernhards und Peter Weiss’ übersetzt. Es ist ein Blick, der »selbst noch Geschehnisse, die (solche Schriftsteller; J.S.) emotional oder psychisch zutiefst beanspruchen, unparteiisch und unbestechlich registriert, während ihre Alltagspersönlichkeit sich ganz und gar in diesen Geschehnissen verliert«. Diese Poetologie weist zurück auf Kertészs »Roman eines Schicksallosen« (1996). Kertészs philosophische Grundthese taucht auch in »Liquidation« mehrfach auf: »Der Mensch der Katastrophe habe kein Schicksal, keine Eigenheiten, keinen Charakter.«

Nicht nur zu Bernhards über 600seitiger »Auslöschung« legt Kertész in seinem nur 142seitigen Kabinettstück allerlei intertextuelle Querverweise aus. Das Buch ist auch als eine Krimigeschichte, als ein komplexes Elaborat lesbar, das in vielen Motiven an Vladimir Nabokovs Meisterwerk »Fahles Feuer« von 1962 erinnert. Auch dort bringt der Erzähler ein rätselhaftes Manuskript an sich, aus dem er dem Leser die Biografie des verstorbenen Freundes und Dichters Shade zu erschließen versucht, tatsächlich aber – zusehends abschweifend und darin Keserû ähnelnd – seine eigene Geschichte in den Fokus rückt. B.s Auftrag, sein Hauptwerk nach seinem Tod zu verbrennen, gemahnt zusätzlich an Franz Kafka, dessen Weisung Max Brod bekanntlich nicht erfüllte. Das große gnostische Axiom B.s schließlich, wonach das Lebensprinzip das Böse sei, erinnert als zentrales literarisches Motiv nicht nur stark an Bernhard und Nabokov, sondern, last but not least, auch an das Werk Arno Schmidts.

Mit anderen Worten: Kertész unterhält sich nebenbei mit der Weltliteratur. In »Liquidation« wird die ursprünglich von Novalis stammende, aber nach dem Holocaust nur noch unter verkehrten, negativen Vorzeichen lesbare Idee wiederholt, dass unser Leben bestenfalls eine Karikatur der großen Romane sei. »In mir schlummern Massen von Büchern«, sagt Keserû einmal, und die Literatur bleibt das einzige, an das er noch glauben kann: »An nichts sonst, einzig und allein an die Literatur. Die Menschen leben wie die Würmer, aber sie schreiben wie die Götter.« Nur noch Bücher vermögen ihm das Chaos der Welt, den großen Scherbenhaufen notdürftig zu ordnen. Die Literatur »ist der Spinnenfaden, der unser aller Leben zusammenhält, der Logos«.

Doch natürlich muss auch dieses Pathos ins Leere laufen. Auch jene letzte, von Keserû beschworene goldene Kette riss mit Auschwitz ab, was es dem von ihm so bewunderten B. unmöglich macht, sein verlorenes Schicksal literarisch zu beschreiben, und ihn zwingt, sein als belanglos erachtetes Manuskript zuletzt vernichten zu lassen. B. verdankt sein Leben einem unwahrscheinlichen Zufall, einer banalen Betriebspanne in einer den Nachgeborenen unvorstellbar gewordenen Vernichtungsindustrie. Würde er seine Überlebensgeschichte als »Sandkorn im Getriebe der Leichenhackmaschinerie« aufschreiben, wäre sie Kitsch. Auch der Erzähler des Romas begreift dies letztlich – und damit die Konsequenz, dass überhaupt keine Geschichte mehr so erzählbar ist wie ehedem. Dass der Leser mit »Liquidation« trotzdem wieder eine Geschichte in Händen hält, die an den Holocaust erinnert, ist eben jenes Paradoxon, das den Roman zu »großer Literatur« macht.

Imre Kertész: Liquidation. Aus dem Ungarischen von Lazslo Kornitzer und Ingrid Krüger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003, 142 S. 17,90 Euro