Die Bewegung in Bombay

Neben dem Militarismus sollen auch Fundamentalismus und Rassismus auf dem Weltsozialforum im Zentrum der Kritik stehen. Doch wenn es um die USA geht, werden die guten Vorsätze vergessen. von jörn schulz

Die indische Regierung ließ sich nicht von der Behauptung beeindrucken, dass die Welt keine Ware ist. Am Tag vor der Eröffnung des Weltsozialforums (WSF) in Bombay verabschiedete sie die dritte Stufe ihrer ökonomischen Reformen. Ausländische Investoren benötigen nun keine Genehmigung der Regierung mehr, sie können indische Ölfirmen und 74 Prozent der Anteile an Banken erwerben. »Die Liberalisierung wirkt sich nicht länger negativ auf Wahlen aus«, meint Pramod Mahajan, ein Wahlstratege der hindu-nationalistischen BJP, der größten Partei in der Koalitionsregierung.

Die rechtsextremistische Hindu-Partei Shiv Sena, die in der nationalen Regierung vertreten ist und in Bombay den Bürgermeister stellt, kann dieser Politik dagegen wenig abgewinnen. »Wir sind gegen einen solchen Ausverkauf, und das WSF hat Recht, wenn es sich gegen solche Privatisierungen wendet«, erklärte der Abgeordnete Sanjai Nirupam. Einmal mehr wurden die etwa 80 000 Teilnehmer auf diese Weise daran erinnert, dass nicht nur die emanzipatorische Linke der »Globalisierung« kritisch gegenübersteht. Willkommen aber konnten sich die Hindu-Extremisten nicht fühlen.

Die Verlagerung des Veranstaltungsortes aus dem brasilianischen Porto Alegre, wo das WSF in den vergangenen drei Jahren stattfand, nach Bombay brachte auch inhaltliche Veränderungen. Neben der »imperialistischen Globalisierung« sollten vor allem gesellschaftliche Hierarchien und Konflikte debattiert werden: das Patriarchat, der Kommunalismus (»religiöses Sektierertum und Fundamentalismus«) sowie Kastenwesen und Rassismus. Für eine Organisation wie Shiv Sena, deren Moralvorstellungen denen islamistischer Gruppen gleichen, ist das keine akzeptable Agenda.

Kapitalistische Entwicklung und »Globalisierung« haben in Teilen der indischen Gesellschaft Wertvorstellungen hervorgebracht, die »westliches« Konsum- und Statusdenken mit religiöser Bigotterie und patriarchalem Extremismus verbinden. Für viele Frauen hat das tödliche Folgen. »Eliminiert die Mitgift, nicht die Töchter«, fordert Vimochana, eine auf dem WSF anwesende Frauengruppe aus Bangalore. Arrangierte Heiraten sind in Indien weit verbreitet, und die Töchter, für deren Verheiratung eine Mitgift gezahlt werden muss, sind eine ökonomische Belastung.

Mit der wirtschaftlichen Liberalisierung und den Konsumwünschen wächst auch der Druck auf die Familien. »Einmal verheiratet, werden Frauen als wertlose Parasiten gesehen. Mehr Geld wird verlangt, und wenn die Familien der Forderung nicht nachkommen, können die Folgen tödlich sein.« Vimochana sammelt Zeugenaussagen und untersucht die meist als Unfälle getarnten Morde.

Seminare wie das von Vimochana veranstaltete und die deutlich sichtbare Präsenz von Homosexuellen, Dalits aus der untersten Kaste der »Unberührbaren« und anderen für den konservativen Teil der indischen Gesellschaft anrüchigen Gruppen dürfte die emanzipatorischen Bestrebungen in der »größten Demokratie der Welt« fördern. Der Bewegung scheint es aber auch diesmal nicht zu gelingen, die Fäden miteinander zu verknüpfen und sich in der Globalisierungsdebatte von der Konzentration auf die USA als Quelle allen Übels zu emanzipieren.

Längst aber gibt es auch fundamentalistische und nationalreligiöse Modelle des Kapitalismus, die sich ideologisch vom »westlichen« Gesellschaftsmodell abgrenzen. Die BJP wird nicht von IWF-Direktiven oder US-Beratern zu ihrer Privatisierungspolitk gezwungen. Sie verfolgt eigene ehrgeizige Pläne. »Unser langfristiges Ziel ist es, mit den USA gleichzuziehen«, verkündete kürzlich der indische Vizepremierminister Lal Krishna Advani.

Eine zeitgemäße Imperialismustheorie müsste die Realität einer »multipolaren Welt«, in der immer mehr Staaten und Staatenbündnisse mit den USA konkurrieren, ebenso reflektieren wie die wachsende Bedeutung des reaktionären Widerstands gegen die »Globalisierung« und die Frage, ob es wirklich so viel erfreulicher ist, für einen indischen statt für einen amerikanischen Unternehmer zu schuften. Der Kapitalismus ist ein globales System, in dem es zwar stärkere und schwächere Spieler gibt und der Einsatz staatlicher Macht den Wettbewerb verzerrt. Die Struktur der Warenproduktion bei der Erzeugung von Roquefort für französische Gourmets ist jedoch die gleiche wie bei der Produktion von Schmelzkäse für Hamburger.

Zumindest bei den spektakulären Großveranstaltungen wurden Zuhörer und Medien einmal mehr mit den gängigen Phrasen der Globalisierungsbewegung beglückt. »Nestlé, Coca-Cola, verlasst unsere Länder. Gebt uns unsere Rechte«, intonierte der unvermeidliche französische Käseproduzent und Bauernaktivist José Bové. Die indische Autorin und Aktivistin Arundhati Roy forderte: »Wenn wir gegen Imperialismus sind, dann dürfen wir nicht nur den Widerstand im Irak unterstützen, dann müssen wir der Widerstand im Irak werden.« Vermutlich wird Roy letztlich doch darauf verzichten, sich einen Sprengstoffgürtel umzuschnallen und in Bagdad GIs in die Luft zu jagen. Dass der bewaffnete »Widerstand« im Irak patriarchale, fundamentalistische und rassistische Gruppen vereint, scheint sie nicht zu stören.

Insofern dürfte die Sorge der Veranstalter des Forums Mumbai Resistance 2004, der Antiimperialismus werde beim WSF zu kurz kommen, unbegründet sein. Erstmals gab es in Bombay eine Alternativveranstaltung, die sich zwar nicht als Gegengipfel präsentierte, aber eine zum Teil scharfe Kritik am WSF formulierte. »WSF ist eine Struktur, die von den Imperialisten konstruiert wurde, um die spontanen antiimperialistischen Kämpfe zu schwächen und umzuleiten«, meinen die New Democratic Labour Front und die People’s Art and Literary Foundation. Und der Maoist Jose Maria Sison, ehemals Vorsitzender der Philippinischen Kommunistischen Partei, weiß auch, wie es dazu kam: »US-Geheimdienstler haben 2000 unter der Deckung der Ford-Foundation bei Attac organisierte französische Trotzkisten, Le Monde Diplomatique und einige kryptotrotzkistische Akademiker und Journalisten dazu gebracht, mit Sozialdemokraten in Frankreich und Brasilien zu kollaborieren, um das WSF zu gründen.«

Es gibt jedoch auch ernst zu nehmende Kritik. »Es ist allgemein bekannt, dass die Art, wie das WSF funktioniert, alles andere als transparent ist«, schreibt der argentinische Autor Ezequiel Adamovsky. Das Organisationskomitee sei »ein Haufen von Leuten, die niemand wirklich kennt«. Bildet sich auf den Sozialforen eine globalisierungskritische Aristokratie, die den Protest verwaltet, die Agenda bestimmt und der globalen Sozialdemokratie die Türen öffnet? Zweifellos haben die Führungskräfte westlicher NGO, die maßgeblich zum WSF-Budget beitragen, großen Einfluss. Verschwörungstheorien und das beliebte Erklärungsmuster, »bürokratische Führung hält radikale Basis vom Kampf ab«, tragen zur Analyse jedoch wenig bei.

Recht zuverlässig gibt das WSF seit vier Jahren den Zustand der globalisierungskristischen Linken wieder. Ihre Hauptströmung vertritt keine grundsätzliche Kritik am, geschweige denn eine Alternative zum Kapitalismus, sondern formuliert nur ein häufig mit »antiimperialistischen« Ressentiments verbundenes diffuses Unbehagen an den Zuständen in der Welt. Der 17jährige Andre Fernandes beipielsweise, ein freiwilliger WSF-Helfer, erklärte der Times of India, ihm sei das Treffen zu radikal. »Ich denke, der Kapitalismus hat auch Pluspunkte, über die sie nicht reden wollen.«