Die negierte Geschichte

Mit Macht kehrt die Vergangenheit zurück: Atom Egoyan fragt in »Ararat« nach der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern. von katja garmasch und peter scheiffele

Erst am Ende des Filmes steht es weiß auf schwarz: »Die historischen Ereignisse in diesem Film werden von Forschern, nationalen Archiven und Augenzeugenberichten bekräftigt. Bis heute verleugnet die Türkei den armenischen Genozid von 1915.« Diese Form der nachgereichten Beteuerung findet sich in vielen historischen Melodramen der Filmgeschichte. Solche Filme zeichnen sich zumeist dadurch aus, dass sie historische Faktizität in den Dienst der Herstellung von Authentizität stellen. Die filmische Inszenierung tritt dabei in der Regel in den Hintergrund.

Was aber, wenn selbst die von der Geschichtswissenschaft herausgearbeiteten Tatsachen nicht auf eine ihnen angemessene politische und gesellschaftliche Anerkennung stoßen oder gar verleugnet werden? Wenn selbst die Macht der Tatsachen im Ringen um die Geschichte versagt? Wenn in der Gegenwart kaum Spuren der Ereignisse, die sich erinnern ließen, vorzufinden sind? Wenn wir in einer Kultur leben, die historischen Ereignissen kaum Aufmerksamkeit und Glauben schenkt, solange diese nicht filmisch dokumentiert sind?

Der Film »Ararat« im Film »Ararat«

In dem Film »Ararat«, der in Cannes 2002 erstmals aufgeführt wurde, beschäftigt sich der in Kanada aufgewachsene Regisseur armenischer Herkunft Atom Egoyan mit diesen Fragen. Da Egoyan schon früh in seinen Filmen den Umgang mit Geschichte problematisiert, Formen des Erinnerns und der Bildung von Identität in einer Kultur der Bilder thematisiert, kommt er nun zu der für ihn vielleicht wichtigsten Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern und seinen Folgen. Dieser erste Genozid des 20. Jahrhunderts liegt nun bald neunzig Jahre zurück und ist in der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt.

Es läge deshalb nahe, eine melodramatische Geschichte à la »Schindlers Liste« zu inszenieren, eine Filmsprache zu wählen, die auf Betroffenheit setzt, Emotionen weckt und einen mitleidvollen Zuschauer hervorbringt. Das macht Egoyan in gewisser Weise auch, indem sein Film »Ararat« über die Erinnerung an den Genozid zugleich von der Produktion eines historischen Films über den Genozid erzählt, der ebenfalls den Titel »Ararat« trägt: Der renommierte Regisseur Edward Saroyan (Charles Aznavour) arbeitet an einem Historiendrama, und in diesem Film im Film, der die Ereignisse des armenischen Genozids aufgreift, will Egoyan nicht darauf verzichten, dem Zuschauer mit klassisch melodramatischen Mitteln zu zeigen, was geschah. Indem er diese Bilder in eine Rahmengeschichte bettet, wird es ihm möglich, einerseits das grundsätzlich prekäre Verhältnis von Repräsentation, Geschichte und Gegenwart, Identität und Traumatisierung darzustellen, andererseits implizit auf einen entscheidenden Aspekt einzugehen: der anhaltenden Verleugnung dieser Geschichte durch die Türkei.

Erinnern an der Grenze

In der filmischen Rahmenhandlung geht es um eine »Grenz-Situation«: Der 18jährige Raffi (David Alpay) kehrt von seiner Türkeireise nach Kanada zurück und wird bei einer routinemäßigen Zollkontrolle wegen mitgeführter Filmdosen aufgehalten. Weil sich in den Dosen noch nicht entwickelte Filmbänder befinden, müssen die Behältnisse verschlossen bleiben, erkärt er dem Beamten. Der kurz vor der Pensionierung stehende Zöllner David (Christopher Plummer) vermutet in den Filmdosen Drogen. Raffi versichert ihm, dort befinde sich lediglich Bildmaterial, das er dem Hollywoodregisseur Edward Saroyan zur Verfügung stellen möchte. Die routinemäßige Zollkontrolle verwandelt sich in ein außergewöhnliches Verhör. In einer von Verdächtigungen und Verleugnung geprägten Situation erhebt sich die Geschichtserzählung. Raffi, der Sohn der Kunsthistorikerin Ani (gespielt von Arsinée Khanijan, Egoyans Ehefrau) und eines getöteten Freiheitskämpfers, berichtet von der Entstehung des Filmepos »Ararat«, an dessen Produktion seine Mutter beteiligt ist und bei der er als Fahrer arbeitet. Vor den Augen des Zöllners und des Zuschauers erscheint nun das von schrecklichen Ereignissen gezeichnete Drama der armenischen Volkes, das Jahrhundert für Jahrhundert sein Recht auf den christlichen Glauben zu verteidigen suchte.

Der Zollbeamte David, der hier für den unwissenden Zuschauer steht, hört nun die Geschichte der Armenier an. Es sind die besonderen Umstände, die dieses Zuhören erst möglich machen. Einerseits ist es Davids letzter Arbeitstag, andererseits fühlt er sich von Raffi an seinen Sohn erinnert, der ihn immer wieder ermahnt, seine Einstellungen zu ändern. In dieser Situation des Umbruchs – den Ruhestand vor sich und verstrickt in den Generationenkonflikt – begegnet er Raffi mit einer für ihn ungewöhnlichen Haltung. Er beschränkt sich nicht darauf, zu inspizieren und zu kontrollieren, sondern fragt nach und lässt Raffi Widersprüche beheben, und ruft nicht nach den Drogenhunden. Durch seine neu gewonnene Haltung zeigen sich ihm und dem Zuschauer historische Zusammenhänge, die hinter der Welt von Fakten und Beweisen liegen.

Aber auch Raffi wird in der Extremsituation des Verhörs zunehmend auf seine Verwobenheit in die Geschichte und sein Privatleben zurückgeworfen. Raffi ist auf der Suche nach seiner Herkunft und Identität, der Erklärung für den Tod seines Vaters, er will die Motive verstehen, die den Vater dazu brachten, ein Attentat zu begehen. Am Ende des Films sitzt Raffi mit dem Zollbeamten in einem Vorraum der Grenzstation. Vor ihm eine Digitalkamera, den Screen zum Zuschauer gerichtet. Die Kamera sucht nach Spuren und Beweisen, findet aber nur eine karge Ebene, aus der ein mit Schnee bedecktem Berg ragt, der Ararat. Keine Spuren der Vergangenheit, keine Hinweise, keine Beweise. Lediglich eine auf dem Berg Ararat befindliche christliche Ikone hilft Raffi sich zu erinnern, gibt ihm eine Textur, um das Ausmaß der Geschichte zu vergegenwärtigen. Aber vor allem über den Akt des Erzählens der Geschichte, seiner persönlichen und der Armeniens, kommt er zu einem Gesamtbild, nähert er sich einer Wahrheit, die in seinen mitgeführten dokumentarischen Videoaufzeichnungen zumeist im Verborgenen bleibt.

Der negierte Massenmord

Die Verleugnungsstrategien folgen auch heute noch der schlichten Logik der Verdrehung von historischen Fakten. Diese reicht so weit, dass die von der jungtürkischen Regierung geplanten und befehligten Deportationen und Liquidierungen der armenischen Minderheit in den Jahren 1915 bis 1918 vom gegenwärtigen türkischen Kulturministerium als »erfolgreichste Um- und Ansiedlungsaktion der Welt« ausgelegt wird. Während von armenischer Seite und von Forschern die Zahl der umgebrachten Armenier auf 1,5 Millionen geschätzt wird, besteht die Türkei nach wie vor darauf, dass die nicht »erfolgreich umgesiedelten« Armenier Seuchen oder dem Krieg an der russischen Front zum Opfer fielen. Und überhaupt hätten nur 1,2 Millionen Armenier innerhalb der Grenzen des osmanischen Reiches gelebt.

Bis in die 1970er Jahre hinein wurde der Massenmord in der internationalen Öffentlichkeit kaum thematisiert. Alle Aufklärungsversuche wurden einerseits von der türkischen Außenpolitik regelmäßig erstickt, andererseits wagte kaum einer der Nato-Bündnispartner, dem anderen in den Rücken zu fallen und die Koalition gegen die Sowjetunion zu gefährden. Erst in einer Resolution des europäischen Parlaments vom 19. Juni 1987 wurden die Türkei und die Länder der Europäischen Union aufgefordert, die Verbrechen öffentlich anzuerkennen und zu verurteilen. Einige der Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten kamen dieser Forderung allerdings bis heute nicht nach. So auch die deutsche Regierung.

Kunst und Geschichte

Gegenwärtig beschäftigen sich verschiedene internationale Nichtregierungsorganisationen und Initiativen wie die »Arbeitsgruppe Anerkennung«, die im April 2000 einen Petitionsantrag an den Deutschen Bundestag zur offiziellen Anerkennung des Völkermordes einreichte, mit dem verdrängten Genozid. In der Vergangenheit waren es vor allem Literaten wie Franz Werfel, Edagar Hilsrath, aber auch Künstler wie Ashile Gorky, die die Erinnerungen an den Genozid der Armenier am Leben erhielten. Gorky, selbst Armenier, emigrierte 1920, nach dem Tod seiner Mutter, im Alter von 15 Jahren nach Amerika. Dort wurde der expressionistische Maler, der sich 1948 das Leben nahm, bekannt. In seinem bedeutendsten Werk »The Artist and His Mother« (1938) kommt die Erfahrung des Genozids versteckt zum Ausdruck. Es bedarf der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte, um es zu decodieren.

Für Atom Egoyan, der sich als Filmemacher der Diaspora definiert, besteht eine der zentralen Aufgaben des Kinos in der Bewahrung der Geschichte in den Repräsentationssystemen der Kultur. In ihnen werden Identitäten konstituiert, die unterschiedliche Erinnerungsformen erst ermöglichen.

In »Ararat« greift Egoyan das Leben und die Erfahrung des Künstler Ashile Gorky auf und weist dieser Figur die dramaturgische Funktion zu, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden und die Grenzen der Darstellbarkeit des Genozids zu verhandeln.

Schon in früheren Filmen wie z.B. in »Calendar« (1993) und »A Portrait of Arshile« (1995) widmet sich Egoyan dem Problem der Erinnerung an die armenische Geschichte und der damit zusammenhängenden krisenhaften Identität der in der Diaspora lebenden Familien. Nun wird aber anhand des künstlerischen Schaffens Gorkys und seiner Integration in den Film-Film »Ararat« eine Geschichte der allgemeinen »Krise der Repräsentation« erzählt. Für Egoyan gibt es aus dieser Krise letzlich nur einen Weg: den Zuschauer und die Schauspieler in ein wechselseitiges Verhältnis zu setzen, in einen reflexiven Prozess der Aneignung geschichtlicher Erfahrung durch Repräsentationen. Vor allem in den früheren Filmen hat Egoyan dieses Mittel eingesetzt, so dass ständig die ordnende Hand des Regisseurs spürbar war. In jüngeren Filmen wie »Das Süße Jenseits« (1997) oder »Felicia, mein Engel« (1999) muss dagegen Reflexivität eher zu Gunsten einer den Zuschauer emotional involvierenden Erzählweise zurücktreten. In »Ararat« verbinden sich nun beide Erzählweisen: das klassisch emotionalisierende Kino, das geschichtliche Ereignisse über reale und fiktive Figuren und eine spezifische Filmrhetorik vermitteln soll, und eine reflexive, über mehrere Repräsentationsebenen verlaufende Erzählweise.

Am Set von Saroyans »Ararat«

»Gott verdammt noch mal! Wir sind von den Türken umzingelt. Wir haben keine Vorräte mehr. Die Leute hier brauchen ein Wunder. Dieses Kind vor mir verblutet. Wenn ich sein Leben rette, gibt uns das vielleicht die Kraft weiterzumachen. Und das hier ist sein Bruder. Seine schwangere Schwester wurde vor seinen Augen vergewaltigt, bevor ihr der Bauch aufgeschnitten wurde, um das noch ungeborene Kind zu töten. Die Augen seines Vaters wurden herausgerissen und in den Mund gestopft. Die Brüste seiner Mutter wurden abgeschnitten. Sie wurde bloß am Leben gelassen, um zu verbluten. Also, wer zum Teufel sind Sie?« schreit der amerikanische Arzt Clarence Ussher in einem Lazarett der armenischen Siedlung Van. Der Arzt ist die Hauptfigur in Saroyans »Ararat«, und der Darsteller dieser Figur hat sich gerade in Rage gespielt, als die Kunsthistorikerin Ani die Dreharbeiten stört. Sie rennt in ihrer Wut über die Zerstörung des von ihr untersuchten Bildes von Arshile Gorky durch das Set an den Kameras vorbei und merkt nicht, dass sie gerade selbst ein Bild, ein filmisches, zerstört hat.

Die verschiedenen zeitlichen und erzählerischen Ebenen sind so komplex gebaut, dass die Figuren von einer Ebene auf die andere zu stolpern scheinen. Von ihrer persönlichen Geschichte getrieben, vermögen sie nicht mehr zwischen der Realität und der Inszenierung, zwischen den verschiedenen Realitätsabbildern zu unterscheiden. Diesen stark selbstreferenziellen Umgang mit dem Medium Film steigert Egoyan noch, indem er seine Sujets von einem Medium in ein anderes transferiert. Schicht für Schicht packt er die unterschiedlichen medialen Abbilder und Texturen aufeinander: Fotografie, Gemälde, Buch, Film. Nur existieren sie nicht friedlich nebeneinander, sondern treten miteinander in Konkurrenz, ringen um Glaubwürdigkeit und Autorität.

Egoyans »Ararat« erzählt die Geschichte des Genozids aus verschiedenen familiären Perspektiven. Dabei wird auch seine eigene Familiengeschichte lebendig. So wie der Filmautor die Geschichte der Armenier zunächst nur aus dem familiären Kontext kennt (seine Großeltern waren vom Genozid betroffen), versuchen auch die Figuren in seinem Film ihre unterschiedlichen familiären Hintergründe auf eine historische Wahrheit hin zu überprüfen. Da Geschichte für Egoyan nie abschließbar, sondern ständig präsent ist, kann sie auch nicht in eine lineare filmische Erzählung gepresst werden. Verhandelbar ist für ihn Geschichte nur, indem die permanenten Konflikte der Figuren mit ihren widerstreitenden Perspektiven auf Geschichte dargestellt werden. Es entsteht ein Wirrwarr von Beziehungen und eine Intermedialität. Am Schluss des Filmes fällt das Ende in den Anfang und macht eine umfassende Struktur sichtbar.

Der Berg Ararat liegt heute auf dem Territorium der Türkei. Er wird in diesem Film zum Symbol einer verleugneten und immer wieder auf neue Weise zu erzählenden Geschichte Armeniens. Egoyan zeigt dabei, dass ein Film, will er das Vergangene darstellen, immer den Weg über die Inszenierung gehen muss. Er setzt deshalb das Artefakt vor die Berufung auf Tatsachen, ohne auf diese verzichten zu können. Die seltenen Spuren des armenischen Genozids, wie vereinzelte Ikonen, Gemälde, Fotos und historische Dokumente, sind zwar für Egoyan Ausgangs- und Endpunkt des Erinnerns, doch reichen sie nicht aus, um sie in die ständig sich verändernden Erfahrungen der Nachwelt zu integrieren. Nur die Inszenierung kann in der Gegenwart das Neue der unabschließbaren Vergangenheit kenntlich machen.

In »Ararat« fallen nun beide Momente, Erinnerung und Inszenierung, zusammen. Egoyan inszeniert die prekäre Erinnerungsarbeit und erinnert dabei an die Ereignisse.