»Wir denken herrschaftskritisch«

Dorothée Booth, Peter Hartig

Die Proteste der Studierenden gehen weiter. In Berlin kommt es dabei immer öfter zu einer Zusammenarbeit mit anderen Gruppen, die vom Sozialabbau betroffen sind. Am vergangenen Donnerstag rief das Bündnis gegen Sozial- und Bildungsraub zu einer Belagerung des Abgeordnetenhauses auf, in dem zu diesem Zeitpunkt über den Berliner Haushalt für die Jahre 2004 und 2005 beraten wurde. Dorothée Booth und Peter Hartig engagieren sich in der AG Presse der streikenden Studierenden an der Humboldt-Universität. Über die Perspektive der Proteste sprach mit ihnen Stefan Wirner.

Wie bewertet ihr die jüngsten Aktionen wie etwa die Umzingelung des Abgeordnetenhauses?

Hartig: Bei der fürsorglichen Belagerung waren mehrere tausend Menschen um das Abgeordnetenhaus herum unterwegs. Wir haben unser Ziel erreicht, dass eine Sitzung im Belagerungszustand stattfand. Es ging darum, den Abgeordneten mal zu zeigen, was politisch in der Stadt so los ist.

Meinst du, das bewirkt etwas bei den Abgeordneten?

Hartig: Wir wollten zeigen, dass die Studierenden auch vor dem Parlament nicht halt machen. Es sind auch welche von uns ins Abgeordnetenhaus hinein, was ja auch erwartet wurde, die Zuschauertribüne war voll von Polizei. Aber es ging darum, den Arbeitsweg der Abgeordneten mal ein bisschen anders zu gestalten, und um die Wirkung nach draußen.

Wie erklärt ihr euch die Sympathie, die euch von der Bevölkerung entgegegebracht wird?

Booth: Die protestierenden Studierenden haben von Anfang an ihren Protest nicht nur gegen Studiengebühren gerichtet, sondern auch klargestellt, dass die Kürzungen im Bildungsbereich nicht zu trennen sind von denen im sozialen Bereich.

Mit wem arbeitet ihr zusammen?

Hartig: Die Schwarzfahr-Aktion haben wir mit Menschen gemacht, die man wirklich als sozial Benachteiligte bezeichnen kann und die Probleme mit dem Preis des öffentlichen Nahverkehrs haben. (Jungle World, 4/04) Die Zusammenarbeit hat wunderbar funktioniert und bei den Studierenden ein Verständnis dafür hervorgerufen, in welchen Zusammenhängen wir hier Politik machen.

Wie setzen sich denn die streikenden Studierenden zusammen?

Hartig: Es engagieren sich vorrangig junge Leute. Der überwiegende Teil studiert im ersten oder zweiten Semester. Sie haben meist kaum politische Erfahrung an der Universität. Sie wollen etwas tun und bauen sich eigene Strukturen auf.

Wie erklärt ihr euch, dass die Proteste in diesem Jahr, anders als früher, auch nach Weihnachten weitergehen?

Hartig: Dieses Mal wurde den Leuten vermittelt, dass auch im neuen Jahr etwas getan werden kann, dass akademische Senate oder diese Sitzung des Abgeordnetenhauses stattfinden, und das ist auch vernünftig kommuniziert worden.

Wie schätzt ihr die Lust der Studierenden ein, weiter zu protestieren? Wie groß ist das Potenzial?

Hartig: Es hat auf der einen Seite schon etwas mit Lust zu tun, aber man muss sich natürlich auch die politischen Zwänge ansehen. Bei der Vollversammlung haben 1 800 Leute für einen Vollstreik gestimmt. Das ist ein Potenzial, das nicht zu unterschätzen ist. Insofern gehen wir davon aus, dass hier an der Uni noch eine Menge Leute rumlaufen, die für Aktionen zu begeistern sind. Auch abends um acht Uhr blieben immer noch welche im strömenden Regen vor den Abgeordnetenhaus.

Booth: Was jetzt geschieht an Bildungs- und vor allem an Sozialabbau, hat eine ganz neue Qualität. Ich glaube, dessen sind sich die meisten bewusst. Es hat etwas zu tun mit der Einsicht in die Relevanz dieser politischen Auseinandersetzung. Es muss jetzt gegen die Studiengebühren demonstriert werden, denn wenn sie erst einmal, in welcher Form auch immer, eingeführt sind, ist es schwieriger, das ist allen bewusst.

Gibt es denn Diskussionen über die Frage, ob man sich radikalisieren sollte? Früher oder später ist man bei solchen Aktionen ja mit der Polizei konfrontiert.

Hartig: Das wird natürlich diskutiert. Bei der Aktion im Abgeordnetenhaus sind ja auch Leute festgenommen worden. Das hat viel Solidarität erzeugt, die Gefangenen wurden von der Gefangenensammelstelle abgeholt. Der Konflikt mit der Polizei entmutigt noch niemanden. Die Leute helfen sich untereinander, man weiß, das sind Dinge, auf die man sich einstellen muss.

Ist die Studierendenbewegung eine linke Bewegung? Welche Rolle spielt in euren Diskussionen eine Kritik am Kapitalismus, die über eine Verteidigung des Sozialstaats hinausgeht?

Booth: Wenn wir uns nur damit begnügen würden, den Sozialstaat zu verteidigen, würde ich für mich persönlich sagen, dass muss nicht unbedingt eine linke Position sein. Die Studierenden, die sich momentan an Aktionen beteiligen, denken in jedem Fall kritisch, herrschaftskritisch. Sie setzen sich mit gesellschaftlichen Gegebenheiten auseinander. Wir sind auch nicht hierarchisch organisiert. Es gibt keine Streikführung, nur ein Plenum, auf dem alles beschlossen wird. Viele Leute werden durch den Streik sehr stark politisiert.

Welche Rolle spielen bei den Protesten eigentlich die studentischen Vertretungen wie die Asten?

Hartig: Keine. Das ist von denjenigen, die in diesen Strukturen arbeiten, auch so gewollt. Aus unserer Sicht ist etwa der Refrat zur Bereitstellung der Logistik und der Infrastruktur da, zu mehr auch nicht.

Booth: Aber das Kümmern um die Infrastruktur darf man natürlich nicht unterschätzen. Denn das ist eine ganze Menge Arbeit.

Wie schätzt ihr die Chance ein, die Bewegung in Berlin am Leben zu halten, wenn die Kürzungen von der SPD und der PDS im Parlament verabschiedet worden sind?

Hartig: Es geht nicht nur um die parlamentarische Auseinandersetzung. Die Universitäten müssen sich auch mit ihren eigenen Universitätsleitungen beschäftigen, die Freie Universität und die Humboldt-Universität etwa mit ihren Präsidien, die in vorauseilendem Gehorsam die Hochschulverträge bereits unterschrieben haben. An diesem Punkt besteht noch einmal die Möglichkeit zu einer politischen Auseinandersetzung für die Studierenden. Hier können wir wirklich noch etwas erreichen, wenn wir gut sind.

Inwiefern spielt denn die Kritik an der Institution Universität eine Rolle?

Booth: Natürlich setzen wir uns auch mit Themen auseinander, die das Studium betreffen. So haben wir die offene Universität gegründet, die im Seminargebäude am Bebelplatz sitzt. Mittlerweile gibt es da ein buntes und kontinuierliches Angebot an Veranstaltungen, Diskussionsrunden und Seminaren. Hier werden Aktionen geplant, man kann sich informieren.

Es gibt ein Plenum, an dem sich alle Beteiligten, egal ob Studierende oder Lehrende, zusammenfinden können. Es herrscht die humanistische, emanzipatorische Vorstellung von einer basisdemokratischen Beteiligung. Wir probieren viel aus und lassen uns auf Sachen ein. Und es wird auch darüber nachgedacht: Was haben wir gemacht? Was haben wir erreicht? Welche Fehler haben wir begangen? Was ist uns gut gelungen?

Wie kam es an, dass die SPD nun Eliteuniversitäten aufbauen will?

Hartig: Einerseits wird behauptet, es gebe kein Geld mehr für die Unis, andererseits wird darüber gesprochen, jede Menge Geld in die Ausbildung von Privilegierten zu stecken. Dieser Widerspruch fällt den Studierenden natürlich auf.