Gar nicht oder Gaza

Israels Premier Ariel Sharon verprellt mit seinen Plänen zum Rückzug aus Gaza die Siedlerbewegung. von andré anchuelo

Ist Israels häufig als »Rechtsaußen« apostrophierter Ministerpräsident Ariel Sharon nun ein »verrückter Linker« geworden, der die strategische Sicherheit seines Landes aufs Spiel setzt? Seitdem der israelische Premier Anfang vergangener Woche verkündete, er wolle den größten Teil der jüdischen Siedlungen im Gazastreifen räumen lassen, hat nicht nur die nationalreligiöse Siedlerbewegung mit derartigen Argumenten Sharon den Kampf angesagt. Auch eine Kolumnistin der angesehenen Tageszeitung Jerusalem Post kommt zu einem ähnlichen Urteil: Sharons Ignoranz für »die gefährlichen Konsequenzen seines Plans« bringe »die Sicherheit des Staates« in Gefahr, schreibt Caroline Glick in der Wochenendausgabe des Blattes. Und selbst Yossi Beilin, einer der prominentesten Linken Israels, kritisiert Sharons Vorhaben als Entgegenkommen gegenüber Terroristen. Sharon habe der »Hamas ein Geschenk für nichts gegeben«, so der Architekt des Osloer Abkommens und Protagonist der »Genfer Initiative«.

Folglich vermuteten einige Beobachter, dass es sich bei Sharons Handeln bloß um ein innenpolitisches Manöver handele. Der Vorsitzende der konservativen Likud-Partei wolle lediglich von einem Bestechungsskandal ablenken, in den er möglicherweise verwickelt ist und der ihn unter Umständen seine politischen Ämter kosten könnte. Doch hatte Sharon seine Pläne für Gaza bereits im Dezember gegenüber seinem Vizepremier Josef Lapid von der liberalen Shinui-Partei offengelegt und auf einer Kabinettssitzung gefragt, ob irgendjemand glaube, dass es auch in Zukunft Juden in entlegenen Siedlungen wie Netzarim geben werde. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen Bestechungsskandal. Außerdem dürfte Sharons Räumungsankündigung die gegen ihn ermittelnde Justiz wenig beeindrucken.

Sharons Vorgehen liegt aber auch eine einleuchtende politische Strategie zugrunde. Zwar hatte er im April 2002, noch während seiner ersten Amtszeit als Premier, einen Rückzug aus Gaza kategorisch ausgeschlossen. Doch bereits im März 2003 hatte Sharon seine Bereitschaft verlauten lassen, einen palästinensischen Staat auf 42 Prozent der Gesamtfläche der Westbank und des Gazastreifens zu ermöglichen; diese Zahl würde die Aufgabe kleinerer und entlegener Siedlungen voraussetzen.

Sharons Strategie geht dabei von zwei Prämissen aus. Zum einen gibt es für ihn auf absehbare Zeit auf palästinensischer Seite keinen ernsthaften Verhandlungspartner mit ausreichender Machtbasis. Yassir Arafat hat sich als ein solcher durch seine Verstrickung in den antiisraelischen Terror schon lange desavouiert. Sein »Premier« Ahmed Qurei wiederum ist militärisch vollkommen von Arafat abhängig. Ein Abkommen gemäß der alten Formel »Land gegen Frieden« ist somit blockiert, weil kein palästinensischer Politiker willens und in der Lage wäre, im Tausch für den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten Frieden zu garantieren.

Zum anderen aber kann es aus zwei Gründen so wie bisher nicht weitergehen. Erstens dürfte Sharon auf der Ebene der Sicherheit klar geworden sein, dass mit rein militärischen Mitteln palästinensische Terroranschläge nicht zu stoppen sind. Um trotzdem ohne palästinensische Hilfe die Sicherheitslage zu verbessern, hat Sharon vor anderthalb Jahren eine alte Idee der israelischen Arbeitspartei aufgenommen: Eine gigantische Sperranlage soll Israel vor Angriffen aus der Westbank schützen. Dass in der ursprünglichen Planung der Trennzaun einige palästinensische Dörfer der israelischen Seite zuschlug, war in dieser Hinsicht ein Fehler, der auch in Regierungs- und Armeekreisen kritisiert wurde und nun teilweise korrigiert wird.

Zweitens kann Sharon auch im Hinblick auf die demographische Entwicklung an einer Fortsetzung des Status quo nicht gelegen sein. Verschiedenen Schätzungen zufolge wird es spätestens in zehn Jahren in Israel, Westbank und Gazastreifen zusammen mehr Palästinenser als Israelis geben. So liegt es nahe, bei einer territorialen Entflechtung unter Berücksichtigung der Demographie mit dem Gazastreifen zu beginnen. Dort ist trotz fast vier Jahrzehnten israelischer Siedlungspolitik ein äußerst asymmetrisches Zahlenverhältnis entstanden. Den in 21 Siedlungen lebenden 7 500 Israelis stehen über 1,2 Millionen Palästinenser – eine Zahl, die wegen der höchsten Geburtenrate der Welt weiter wächst – gegenüber. Im Gegensatz zur tradierten Siedlerideologie bieten die dortigen Siedlungen keinerlei strategischen Schutz für Israel. Umgekehrt muss die Armee immer mehr militärische und finanzielle Mittel aufwenden, um den Alltag der Siedler abzusichern.

Auch im Gazastreifen greift Sharon im Übrigen eine aus der Arbeitspartei stammende Idee auf. Der frühere Premier Shimon Peres von der Arbeitspartei entwickelte bereits Anfang der achtziger Jahre das Konzept »Gaza zuerst«, das zehn Jahre später schließlich im »Gaza-Jericho-Abkommen« von Oslo mündete. Als im Herbst 2001 die Bemühungen um eine israelisch-palästinensische Annäherung stockten, war es wiederum Peres – damals Außenminister unter Sharon –, der vorschlug, mit einem Rückzug aus dem Gazastreifen zu beginnen. Und wie damals zeigen Umfragen, dass auch diesmal fast 60 Prozent der Israelis einen solchen Rückzug unterstützen. Auf diese Mehrheit stützt sich jetzt Sharon im Kampf mit den beiden ultranationalistischen Koalitionsparteien und Teilen seines eigenen Likud, die das Gaza-Projekt entschieden ablehnen. Schon sind eine Mitgliederbefragung im Likud und gar Neuwahlen in Verbindung mit einer Volksabstimmung oder -befragung über Gaza in der Diskussion.

Aber auch eine Regierungsumbildung unter Einbeziehung der Arbeitspartei anstelle der Ultranationalisten wäre möglich. Shimon Peres jedenfalls, der jüngst in seinem Amt als Vorsitzender der Arbeitspartei bis Ende 2005 bestätigt wurde, beeilte sich, Sharon seine Gratulation dafür auszusprechen, dass dieser »die Politik der Arbeitspartei angenommen« habe. Zunächst allerdings, dem Vernehmen nach bis zum Sommer, sollen genaue Pläne für Sharons Vorhaben ausgearbeitet und die womöglich auch finanzielle Unterstützung Washingtons gesichert werden.

An dem, was bislang über die Pläne bekannt wurde, zeigt sich jedenfalls auch, dass Sharon keineswegs einen Staat Israel in den Grenzen von 1967 anstrebt. Zwar sollen auch drei Siedlungen in der Westbank geräumt werden, doch dafür sollen die großen Siedlungsblöcke rund um Jerusalem sowie nahe Tel Aviv weiter ausgebaut und später annektiert werden. Deswegen ist es Ausdruck seiner politischen Logik und nicht bloß ein rhetorisches Zugeständnis an die Ultranationalisten, wenn Sharon betont, es gehe nicht um eine »Evakuierung«, sondern um eine »Umsiedlung« von Siedlungen.

Trotzdem ist für die Siedlerbewegung und ihre politischen Parteien eine »rote Linie« überschritten worden. Sie verstecken sich hinter durchaus diskutablen Argumenten wie etwa der »Belohnung von Terrorismus«, weil sie sonst eingestehen müssten, dass sie schon aus Prinzip niemals eine Siedlungsräumung unterstützen könnten. Sharon hingegen hat, wie es der Ha’aretz-Redakteur Yoel Marcus formulierte, »eine Straße ohne Wiederkehr betreten«: »Entweder er marschiert vorwärts, oder er wird fallen.«