Böse Zellen

Nicht nur der Berlinale-Gewinner Fatih Akin beschäftigt sich mit der Familie als Zwangssystem. von axel grumbach

Mir ist das hier zu primitiv. Entweder geht das Niveau in eine andere Richtung oder wir lassen das. Wo sind wir denn?« Was sich wie eine treffende Beschreibung des Berlinale-Wettbewerbs anhörte, war dann doch nur der inszenierte Wutausbruch des Regisseurs Romuald Karmakar auf der Pressekonferenz zu seinem Film »Die Nacht singt ihre Lieder«.

Ein Journalist hatte da doch gewagt zu fragen, wie er das andauernde Gelächter während der Pressevorführung seines Filmes empfunden habe.

Es entbehrte natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass ein Filmemacher, der sich viel mit extremen Lebensumständen beschäftigt hat, diesmal mit einem Stück, das die Ödnis einer erschlafften Beziehung mittels sprachlicher Endlosschleifen darstellt, weit ins grenzwertige Schattenreich des unfreiwilligen Humors vorstieß.

Von vielen Kritikern wurde diese Berlinale als ein Festival der starken Frauen (»Monster«, »The Missing«, »Cold Mountain«, »Maria voll der Gnade«) gefeiert; und obwohl der von Festivalleiter Dieter Kosslick postulierte politische Gehalt sich nicht so recht manifestieren wollte, konnte man sich wenigstens nicht über die Bandbreite ausgefallener Problemdarstellungen beschweren. Manche Filme brillierten mit Szenen von geradezu würgender Eindringlichkeit, wie beispielsweise das Schlürfen eines blutigen Tampon-Cocktails in Catherine Breillats Pornoessay »Anatomie der Hölle« oder das langwierige Herunterschlucken von 60 kondomhäutigen Heroin-Würstchen in Joshua Marstons »Maria voll der Gnade«.

Besonders auffällig war jedoch, dass viele der besseren Filme den Ausbruch aus der biologischen Zwangsgemeinschaft Familie thematisierten. Obwohl in der westlichen Welt seit 30, 40 Jahren viel über deren Niedergang lamentiert wird, bildet die Familie immer noch so etwas wie die Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft. In vielen Einwandererfamilien wird die bedingungslose Treue zum eigenen Blut nach wie vor beschworen – und dient somit der Fortführung der sozialen Kontrolle.

Auch bei dem diesjährigen Gewinner des Goldenen Bären, dem ebenso brachialen wie leidenschaftlichen Melodram »Gegen die Wand« von Fatih Akin, kann die Deutsch-Türkin Sibel (Sibel Kekilli) ihrem traditionsgebundenen Familienumfeld nur entfliehen, indem sie den lebensmüden Alkoholiker Cahit (Birol Ünel), den sie in der Psychiatrie kennengelernt hat, zu einer Scheinehe überredet. Per Heirat dem Verwandtenterror entkommen: Regisseur Akin war selbst einmal um diesen Gefallen gebeten worden, was ihn zu diesem Film inspirierte.

Nach der Hochzeit stürzt sich Sibel in eine Affäre nach der anderen, während Cahit sich allmählich in seine Angetraute verliebt. Im Affekt erschlägt er einen ihrer Liebhaber und wird zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die von ihrer Familie daraufhin verstoßene Sibel zieht nach Istanbul.

Nun ist man in der Türkei wie in Deutschland stolz auf den Bärengewinner. Und Akin hofft, dass sein Film vielleicht »etwas bewegen« kann und »konservative Familien zur Diskussion anregt«.

Ken Loach, der Altmeister des sozialen Realismus, beschäftigt sich in seinem neuesten Werk (»Ae Fond Kiss«) ebenfalls mit einem familiären Konflikt im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Casim Khan (Atta Yaqub), DJ und Sohn pakistanischer Einwanderer in Glasgow, verliebt sich in die junge irische Musiklehrerin Roisin Hanlon (Eva Birthistle), aber Casims Eltern, strenggläubige Muslime, haben nach guter alter Sitte bereits die Heirat Casims mit seiner Cousine beschlossen und wollen diese bald vollzogen sehen. Um den Sohn wieder zu dem zu bringen, was sie unter Vernunft versteht, bearbeitet die ganze Famile Casim mit verschiedenen Varianten des Psychoterrors wie gemeinen Tricks, Drohungen und Wehklagen über die Schande. Trotzdem entscheidet sich Casim am Ende für den emanzipatorischen Weg.

Dass eine einzige Person eine ganze Familie zerstören kann, zeigt sich auch in Robert Moreiras »Contra Todos« (Gegen alle). Eine in den letzten Jahren immer wiederkehrende Figur im brasilianischen Kino ist die des Auftragsmörders, ein sicher untrügliches Zeichen für seine dortige Allgegenwärtigkeit. Im Panorama-Beitrag ist der Killer ein sich strikt religiös gerierender Familienvater namens Teodoro, der streng über seine Frau Claúdia und Tochter Soninha herrscht. Teodoro hat eine Geliebte, während seine Frau ein Verhältnis mit einem Jungen aus der Nachbarschaft hat. Als dieser ermordet wird und Claúdia Teodoro für die Tat verantwortlich macht, eskalieren die familiären Auseinandersetzungen. Die an Schizophrenie grenzende Verlogenheit des täglich meuchelnden Vaters lässt die Familie in einem Meer aus Blut und Tränen untergehen.

Regisseur Moreiras hat den vom Dogma-Film inspirierten ultrarealistsichen Stil adaptiert, aber naturgemäß musste die Story den sozialen Realitäten seines Landes angepasst werden, er kommentiert dies trocken mit: »Unlike Dogma, my film has guns.«

Gewöhnlich kennt man Drogenschmuggler nur als zweitklassige Bösewichter in US-amerikanischen Drogen-Thrillern. In Joshua Marstons Erstlingswerk »Maria voll der Gnade« wird die Geschichte aus der Perspektive eines jungen Drogenkuriers aus Kolumbien erzählt. Die 17jährige Maria (Catalina Sandino Moreno gewann für ihre Darstellung den Silbernen Bären) möchte aus der elenden Welt ihres Dorfes ausbrechen, wo sie auf engem Raum mit mehreren Generationen der Familie haust. Als sie ihre Arbeit in einer Manufaktur wegen »aufmüpfigen Verhaltens« verliert und dazu auch noch feststellt, dass sie schwanger ist, wird sie von einem Bekannten dazu überredet, ihr Geld künftig als »Maultier«, wie die Drogenschmuggler genannt werden, zu verdienen.

Der Film zeichnet, auch durch seine vielen mit Handkamera gedrehten Szenen, in einem fast schon dokumentarischen Stil ein derb-realistisches Bild des gefährlichen Schmugglerhandwerks. Minutiös wird das schmerzhafte Herunterwürgen von 60 mit Heroin gefüllten Kondomen gezeigt. Kuriere sterben zwar immer wieder durch geplatze Kondome oder werden verhaftet, es gibt jedoch genügend Nachwuchs. Marston betont den universellen Charakter: »Maria ist keine wahre Geschichte, aber eine Geschichte die jeden Tag passiert.«

Die Ramones-Dokumentation »End of the Century« (Jim Fields, Michael Gramaglia) beschäftigt sich neben dem musikhistorischen Werdegang der ersten Punkband interessanterweise mehr mit den einzelnen Bandmitgliedern und deren langjährigen Konflikten untereinander. Die Mitglieder reproduzierten in der legendären Musikformation ihre dysfunktionalen familiären Strukturen. Gitarrist Johnny Ramone agierte als strenger Patriarch, der dafür sorgte, dass die Wiederholung des ewiggleichen Drei-Akkorde-Dreschens zwei Jahrzehnte lang exekutiert wurde, nebenbei spannte er Sänger Joey Ramone die Freundin aus und heiratete sie, was zu unüberwindbaren Spannungen in der Band führte. Bassist Dee Dee Ramone, das schwarze Schaf der Familie, verließ die Band acht Jahre vor ihrem endgültigen Ende 1996. In diesem dichten Psychogramm, das durchdrungen ist von Streit, Hass und Intrigen, wird auch deutlich, wie die Band selbst nach und nach zu einer Zwangsgemeinschaft wurde. »Sie hassten und liebten es zugleich, ein Ramone zu sein«, erläutert der Co-Regisseur Jim Fields die paradoxen Gefühle der Bandmitglieder. Sie wurden als Wegbereiter gefeiert, die aber nie den von ihnen angestrebten kommerziellen Durchbruch schafften.

Der genuine Punk-Look der Dokumentation entsteht allein schon durch die vielfach verwendeten Originalaufnahmen, die laut und roh, mit zum Teil mieser Bild- und Tonqualität, eben das absolute Gegenteil der belanglosen Bandporträts, wie sie auf MTV und Viva laufen, repräsentieren.

»We’re a happy Family« haben die Ramones schon 1977 gesungen und anschließend jahrzehntelang gezeigt, dass man nicht miteinander verwandt sein muss, um einander das Leben zur Hölle zu machen. Aber es hilft doch sehr.