Eine Liebe zu Deutschland

Eine Biografie zeichnet das Leben von Mildred Harnack nach, einem Mitglied der Roten Kapelle. von silke kettelhake

Und ich habe Deutschland so geliebt.« Das sollen die letzten Worte der 40jährigen Amerikanerin Mildred Fish-Harnack gewesen sein. Am 16. Februar 1943 um 18 Uhr 57 wurde die Literaturwissenschaftlerin in Berlin-Plötzensee wegen »Hochverrats« hingerichtet. Einige Monate zuvor, im Dezember 1942, war ihr Mann am selben Ort gehängt worden.

Aus dem Freundeskreis von Arvid und Mildred Harnack und des Ehepaares Schulze-Boysen entstand in den dreißiger Jahren ein weit verzweigtes Widerstandsbündnis gegen den Nationalsozialismus. Die Gestapo bezeichnete die Vereinigung als »Rote Kapelle«, vermutete sie doch dahinter einen von der Sowjetunion unterstützten Spionagering.

Die amerikanische Journalistin Shareen Blair Brysac recherchierte sechs Jahre lang in erstmals zugänglichen osteuropäischen Archiven, in Akten des FBI, des CIC und des CIA, in persönlichen Aufzeichnungen und Briefen den Weg der Mildred Harnack in den Widerstand. Sie verfolgt exemplarisch ein Einzelschicksal innerhalb der Widerstandsgruppe: Im Gegensatz zu vielen anderen Veröffentlichungen, die die Verhörprotokolle der Gestapoakten zur Grundlage ihrer Recherche nahmen, wie zum Beispiel der thrillerartige Text »Kennwort Direktor« des Spiegel-Redakteurs Heinz Höhne Ende der sechziger Jahre oder der Spionageroman »Auf den Spuren der Roten Kapelle« von Gilles Perrault, nimmt sich Shareen Blair Brysac einfühlsam der Beweggründe und der Entwicklung Mildred Harnacks an. Gelungen ist ihr eine geradezu filmische Verdichtung eines Zeitenbildes der Angst und des Terrors. Man meint, während des Lesens mit Mildreds Augen durch die zunehmend bedrohlicher wirkenden Berliner Straßen zu gehen, immer in Angst vor der Entdeckung der konspirativen Arbeit, immer im Hinterkopf die drohende Verhaftung und das Schwinden der Hoffnung. Wem trauen? Wohin sich wenden?

Das Polizeifoto der Gestapo, das nach ihrer Verhaftung entstand, zeigt eine verhärmte Frau mit spitzem Kinn und strengem Haarknoten. Von der ehemals gerühmten Schönheit ist nichts mehr geblieben, die über mehrere Jahre währende Anspannung hat ihren Tribut gefordert.

Ihre Liebesheirat mit Arvid Harnack führt die schwärmerische Literaturstudentin aus Milwaukee/Wisconsin in eine der liberal-bürgerlichen Akademikerfamilien Deutschlands. Doch sie behält ihren Mädchennamen und ihre Selbstständigkeit bei, in Deutschland nennt sie sich Harnack-Fish und in den USA Fish-Harnack. Sie promoviert in amerikanischer Literatur, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Sie genießt das intellektuelle Umfeld der Harnacks – die Familien Bonhoeffer und Delbrück gehören zu den Freunden des Hauses – und macht Übersetzungen. Ein schönes, reiches Leben, trotz materieller Schlichtheit, wie es schon bald in Deutschland nicht mehr möglich sein sollte. Der Nationalsozialismus gewinnt zunehmend Einfluss, was Mildred am 1. Februar 1930 in einem Brief an ihre Mutter auf die schlechte wirtschaftliche Lage als Folge des Ersten Weltkrieges zurückführt: »Du kannst dir nicht vorstellen, warum die Deutschen ihre Teller so sauber kratzen.«

Mildred arbeitet ab 1930 an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität als Dozentin für amerikanische und englische Literatur. Nach dem Zusammenbruch der Börsen 1929 waren Arvid und Mildred überzeugt, in der aufstrebenden Sowjetunion ein Paradebeispiel der neuen Wirtschaftsentwicklung gefunden zu haben. Mehrere Reisen lassen Arvid immer begeisterter zurückkehren, während Mildred dort sehr wohl die Diskrepanzen des stalinistischen Regimes wahrnimmt. Mitte der dreißiger Jahre gerät das Ehepaar zunehmend in eine gesellschaftliche Isolation, viele seiner besten Freunde emigrieren. Sie könnte in die USA zurückkehren, will aber ihren Mann nicht zurücklassen, der, inzwischen Mitglied der NSDAP, beginnt, im Wirtschaftsministerium Karriere zu machen – und zugleich Informationen nach Moskau weitergibt, wie Brysac in Harnacks sowjetischer Akte nachlesen konnte. Dass diese brisanten Geheimnisse eine Beziehung belasten, steht bei Brysac zwischen den Zeilen. Vielmehr entsteht der Eindruck einer aufopferungsvollen Frau, die in ihrer Freizeit zusätzlich am ersten Abendgymnasium Deutschlands Erwachsene unterrichtet.

Unter dem Eindruck des beginnenden Krieges intensivieren die beiden ihre Suche nach Gleichgesinnten. In dem jungen Ehepaar Schulze-Boysen finden sie ein Pendant, das allerdings Lebenslust wie Labilität in sich zu vereinen scheint. Harro Schulze-Boysen versucht ebenso wie Arvid, im System Karriere zu machen: Als Oberleutnant im Luftwaffenführungsstab hat Schulze-Boysen Zugang zu geheimen Dokumenten. Er und Harnack kooperieren mit einem in Berlin tätigen Mitarbeiter des sowjetischen Nachrichtendienstes. Schulze-Boysen berichtet ihm über die deutschen Angriffspläne. Sie versuchen, Moskau per Funk zu informieren, doch die Bemühungen sind derart amateurhaft, dass nur ein Gruß sein Ziel erreicht. Doch die Berliner Sektion ist Teil eines europaweiten Spionagenetzes – und fliegt durch einen Zufall auf.

Mildred Harnack-Fish gehörte zu einer Lost Generation linksgerichteter, begabter, idealistischer Frauen, deren Namen erst lange Jahre später in der Öffentlichkeit eine Bedeutung erhielten, ähnlich einer Marina Zwetajewa, einer Milena Jesenská und vielen anderen.

52 der 139 Verhafteten der Roten Kapelle waren Frauen, Frauen, die nicht im Schatten ihrer Männer standen: Da war Libertas Schulze-Boysen, die in der Reichskulturkammer Zeugnisse des Genozids sammelte, da war die Ärztin Elfriede Paul, die Juden und anderen Verfolgten half, da war die Tänzerin Oda Schottmüller, die die Funkgeräte versteckte, da war die Schauspielerin Martha Husemann, die Wirtschaftswissenschaftlerin Greta Kuckhoff, da waren die Abendschülerinnen, die sich um Mildred Harnack sammelten. Junge Mädchen wie Liane Berkowitz, die sich an Plakataktionen beteiligte, und wie die kommunistisch geprägte Hilde Coppi, die nach der Geburt ihres Kindes hingerichtet wurde, und viele mehr. Die »Rote Kapelle« stand in Kontakt mit anderen Regimegegnern wie der »Weißen Rose« und den Kreisen um die Attentäter des 20. Juli 1944, doch als außergewöhnlich ist hier der Anteil der trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft hoch aktiven Frauen zu vermerken.

In der DDR wurde der Widerstandsgeist der Roten Kapelle heroisiert – Schulen und Straßen nach Widerständlern benannt, Briefmarken gedruckt – und so die Verbreitungsstrategie vermeintlicher kommunistischer Ideale initiiert. 1969 wurde Mildred Harnack posthum der sowjetische Orden des Großen Vaterländischen Krieges verliehen.

Noch über zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte das CIA eine geheime Akte, um mögliche Überlebende aufzuspüren – in der Vermutung weiterreichender Spionageverbindungen zum Erzfeind des Kalten Krieges.

Shareen Blair Brysac: Mildred Harnack und die »Rote Kapelle«. Scherz, Frankfurt a.M. 2003, 512 S., 26,90 Euro