Im serbischen Labyrinth

Die Regierungsbildung in Serbien ist noch in weiter Ferne. Zum Ärger des Westens rehabilitiert Kostunica die Sozialisten. von boris kanzleiter, belgrad

Wenn in diesen Tagen von Serbien die Rede ist, vergessen die internationalen Krisenmanager alle diplomatischen Sprachregelungen. »Die Politiker in Serbien« könnten nicht weiter schauen »als bis zur eigenen Nasenspitze«, kommentiert der Generalsekretär des Europarates, Walter Schwimmer, die Ränkespiele um die Regierungsbildung. Und Nicholas White von der einflussreichen NGO International Crisis Group warnt: »In den Händen der falschen Leute kann Serbien gefährlich sein für seine Nachbarn und die ganze Region.«

Gründe für die Verstimmung gibt es genug: Zuerst haben bei den Parlamentswahlen am 28. Dezember über 27 Prozent der Wähler die Serbische Radikale Partei (SRS) des wegen Kriegsverbrechen in Den Haag angeklagten Rechtsextremisten Vojislav Seselj zur stärksten Partei in der neuen Skupstina, dem serbischen Parlament, gewählt. Statt nun eilig, wie von EU und USA nachdrücklich erwünscht, eine rechnerisch mögliche Koalition der vier gemeinhin als »demokratisch« bezeichneten Parteien zu bilden, setzen diese unbeirrt ihre Selbstzerfleischung fort. Die Demokratische Partei (DS) des Wahlverlierers Zoran Zivkovic scheint um keinen Preis unter einem Premierminister Vojislav Kostunica von der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) den Junior spielen zu wollen. Kostunica aber lässt keine Möglichkeit aus, die ihm verhasste DS zu blamieren. Die neoliberale G17 Plus und die Royalisten von der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO) stehen zwischen den Fronten.

So ist eine Situation entstanden, die bis vor kurzem wohl niemand für möglich gehalten hätte. Zum Entsetzen Washingtons und Brüssels hat Kostunica die bisher als unverbesserlicher Fanklub des im Oktober 2000 gestürzten Slobodan Milosevic geltende Sozialistische Partei Serbiens (SPS) zum verlässlichen Partner erklärt. Im Gegenzug zur Rehabilitierung der Sozialisten wählten diese gemeinsam mit G17 Plus und SPO den Vertrauten Kostunicas und DSS-Funktionär Dragan Marsicanin zum Parlamentspräsidenten. Mittlerweile scheint sich sogar eine Regierungsbildung mit Unterstützung der Sozialisten abzuzeichnen. Belgrader Zeitungen titeln bereits »Slobo kommt zurück!«

Mit der Realität hat die Schlagzeile jedoch wenig zu tun. Im Falle der möglichen Minderheitenkoalition aus DSS, G17 Plus und SPO würden die nach einem Plätzchen in der Nähe der Macht gierenden Sozialisten lediglich die Rolle des parlamentarischen Mehrheitsbeschaffers spielen, ohne selbst in die Regierung einzutreten. Dafür scheinen sie sogar bereit, sich von ihrem in Den Haag sitzenden Maskottchen zu distanzieren. Auch von der von Kostunica versprochenen »Stabilität« wäre Serbien mit einer solchen Regierung weiter entfernt als unter der an Korruptionsskandalen und einer miserablen Wirtschaftspolitik zerbrochenen alten Regierung. Denn statt die Verfassung zu reformieren und den undurchsichtigen Privatisierungsprozess zu überprüfen, bei dem bisher die Kriegsgewinnler ihr schmutziges Kapital rein gewaschen haben, stände Kostunicas Regierung unter permanentem Beschuss von allen Seiten. Was die Marktliberalen von G17 Plus und die Sozialisten außer dem Willen zur Macht gemeinsam haben, ist ohnehin ungeklärt.

Die Fortsetzung der politischen Dauerkrise ist somit wahrscheinlicher als alles andere. Doch das sorgt keineswegs nur für Verdruss. Insbesondere die prosperierende Mafia kann so in Ruhe ihren einträglichen Geschäften nachgehen und die Radikale Partei sich mit ihrer Mischung aus sozialpopulistischen und nationalistischen Parolen als die wahre Opposition profilieren. Dieses Phänomen ist in fast allen osteuropäischen Ländern bekannt, von Polens »Samaobrona« (Selbstverteidigung) des rechtspopulistischen Bauernagitators Andrzej Lepper bis zu Rumäniens »Romania Mare« (Groß-Rumänien) des Rechtsextremisten Corneliu Vadim Tudor. Der Unterschied ist allerdings, dass die SRS in Serbien in absehbarer Zeit Aussicht auf eine Beteiligung an der Macht hat.

Noch ist ungewiss, wie und wann die Regierung gebildet wird, oder ob es vielleicht doch zu Neuwahlen oder einer überraschenden Koalition der vier »demokratischen« Parteien kommen wird. Serbiens Politik steckt in einem Labyrinth. Dennoch haben die Wochen seit dem 28. Dezember auch Gewissheiten gebracht. So zeichnet sich ab, dass sich der seit Jahren schwelende Konflikt um die autonome Region Vojvodina verschärfen wird. Einerseits bietet der Kampf gegen »Sezessionisten« in der zwei Millionen Einwohner zählenden nordserbischen Provinz eine gern bediente Profilierungsmöglichkeit für die Radikalen, die vor einem weiteren territorialen Zerfall des Staates warnen. Andererseits versucht der ob seiner dubiosen Verbindungen zur Unterwelt angeschlagene Führer der Regionalregierung in Novi Sad, Nenad Canak, den »Kampf gegen den Faschismus«, den er in den Radikalen verkörpert sieht, für seine politische Karriere zu nutzen. Sein Parteienbündnis »Gemeinsam für Toleranz« war bei den gesamtserbischen Wahlen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, erhielt in einigen Teilen der Vojvodina aber die Mehrheit.

Tatsächlich bilden ethnonational motivierte »Sezessionisten« in der multiethnischen Provinz mit einer serbischen Mehrheitsbevölkerung nur eine kleine Minderheit unter der ungarischen und kroatischen Bevölkerung. In Folge der fortgesetzten Krise in Belgrad aber entwickeln sich in der stets auf Eigenständigkeit pochenden Region, deren von Milosevic aufgehobenes Autonomiestatut vor zwei Jahren wieder eingeführt wurde, verstärkt wirtschaftlich und politisch begründete Absetzbewegungen. Die Regionalisten versuchen über eine Strategie der Übertragung von Regierungskompetenzen von Belgrad nach Novi Sad eine engere Anbindung der Vojvodina an die Europäische Union zu ermöglichen als sie mit dem verarmten Serbien im Schlepptau möglich scheint. Ab dem 1. Mai ist Ungarn, dessen Bestandteil die Vojvodina bis nach dem Ersten Weltkrieg war, EU-Mitgliedsstaat.

In der gegenwärtigen polarisierten Situation reichen Schändungen kroatischer Friedhöfe und ähnliche Vorfälle aus, um das Klima erheblich zu verschärfen. Keinen geringen Anteil daran hat der Führer der Radikalen, Tomislav Nikolic, der Canak vergangene Woche bei einer Fernsehdiskussion in die politische Nähe kroatischer Ustascha-Faschisten rückte und ihm mit eiskalter Miene riet, seinen Wohnsitz lieber ins Ausland zu verlegen. Canak dagegen droht mit einer »Internationalisierung« des Konfliktes, die in Budapest und Zagreb, aber auch in der EU schnell Gehör finden dürfte.