Kampf um Kontrolle

Nach dem angekündigten Rückzug Israels aus dem Gazastreifen drohen die Islamisten mit neuen Anschlägen. Der innerpalästinensische Machtkampf hat sich verschärft. von andré anchuelo

Es waren die heftigsten Kämpfe seit Monaten, 15 Palästinenser starben im Gazastreifen bei Gefechten mit der israelischen Armee (IDF) am Mittwoch letzter Woche. Die Militäraktion platzte in die kontroversen Diskussionen der israelischen Öffentlichkeit und zahlreicher internationaler Beobachter über das Anfang Februar bekannt gewordene Vorhaben des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, den größten Teil der israelischen Siedlungen im Gazastreifen zu räumen (Jungle World, 8/04).

Deswegen lag es nahe, zwischen beiden Ereignissen eine Verbindung zu suchen. Aber welche? So stellte etwa Ze’ev Schiff in einem Kommentar in der linksliberalen israelischen Tageszeitung Ha‘aretz die Frage: »War es der Zweck, den Palästinensern zu zeigen, dass die Entscheidung, sich zurückzuziehen, kein Sieg für sie oder den Terror war?«

Tatsächlich zielt die zentrale Kritik vieler israelischer Politiker, Militärs und Geheimdienstler an Sharons Pläne eines einseitigen Rückzugs aus dem Gazastreifen auf diesen Punkt. Man befürchtet, die Durchführung von Sharons Vorhaben könnte insbesondere von der radikalislamistischen Hamas-Organisation als Bestätigung dafür gewertet werden, dass der Terror in Form von Selbstmordanschlägen, Schussattacken und Raketenangriffen auf israelische Zivilisten sich letztlich auszahle und deswegen zur »Befreiung« der Westbank fortgesetzt werden müsse.

So demonstrierten letzte Woche 500 Likud-Anhänger in Petach Tikvah gegen das Räumungsvorhaben. Unter den Demonstranten befanden sich auch Likud-Politiker mit Regierungsamt. Uzi Landau, Minister ohne Geschäftsbereich, warnte: »Wenn die ersten Katjuscha-Raketen auf Petach Tikvah fallen, werden wir einen eigenständigen Staat Palästina angreifen müssen, und die Welt wird aufschreien«.

Avi Dichter, Leiter des Inlandsgeheimdienstes, und Aharon Ze’evi-Farkash, Chef des Militärgeheimdienstes, äußerten ebenfalls die Befürchtung, der Rückzug werde Organisationen wie die Hamas zu »weiterem Terrorismus motivieren«. Und auch der prominenteste linke Politiker, der ehemalige Justizminister Yossi Beilin, erneuerte in einem Beitrag für die International Herald Tribune seine Einschätzung, dass ein einseitiges Vorgehen Sharons palästinensische Extremisten stärke. Einer neuen Umfrage zufolge, die die größte israelische Tageszeitung Yedioth Achronot veröffentlichte, befürworten inzwischen allerdings über drei Viertel der Israelis die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen.

Jedenfalls zielte die IDF-Operation im Wesentlichen auf eine Hochburg der Hamas im Osten von Gaza-Stadt, aus der immer wieder Qassam-Raketen auf israelische Ortschaften im Gazastreifen und im angrenzenden israelischen Staatsgebiet abgefeuert worden waren. So waren die meisten der Getöteten bewaffnete Hamas-Mitglieder, darunter ein von Israel seit langem gesuchter hochrangiger Aktivist. Aber auch der Sohn des Fatah-Sekretärs im Gazastreifen sowie ein Aktivist des Islamischen Jihad und mindestens ein Mitglied der Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde (PA) kamen bei den Kämpfen ums Leben.

Zwar betonte ein Sprecher der IDF, bei den Getöteten habe es sich ausschließlich um bewaffnete Mitglieder militanter Gruppen gehandelt, doch nach Angaben von Ha’aretz kamen auch mehrere unbewaffnete Zivilisten ums Leben. In dem Bericht kritisierten allerdings nicht nur der IDF-Sprecher, sondern auch viele Einwohner Gazas, dass die palästinensischen Schützen Ansammlungen unbewaffneter Jugendlicher als Deckung benutzten.

Als Reaktion feuerte die Hamas zehn Qassam-Raketen auf israelische Ortschaften im Gazastreifen und innerhalb Israels, wobei ein Haus beschädigt wurde. Außerdem veröffentlichte sie einen »dringenden Aufruf« an alle ihre Zellen in der Westbank, sofort und überall »mit großen Selbstmordanschlägen« zu reagieren. In ganz Israel wurden die Sicherheitskräfte daraufhin in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Hamas-Sprecher Abdel Aziz Rantisi drohte, »die Israelis werden einen hohen Preis bezahlen«. Er hoffe, dass entsprechende Anschläge Israel dazu zwingen werden, nicht nur aus Gaza, sondern »aus allen besetzten palästinensischen Territorien« abzuziehen. Die Hamas jedenfalls scheint zur Übernahme der Macht in von israelischer Herrschaft »befreiten« Gebieten bereit zu sein.

Nicht umsonst stellte Ze’ev Schiff fest, dass die Militäraktion in Gaza weitere Fragen aufwerfe, etwa, ob es das Ziel war, »Hamas zu treffen, um sie davon abzuhalten, in Zukunft die Kontrolle im Gazastreifen zu übernehmen«. Denn während die street credibility der Hamas immer weiter wächst, sinkt das Ansehen der PA und ihrer Basis, der Fatah-Bewegung, kontinuierlich ab. Das liegt nicht nur an den »erfolgreicheren« Anschlägen der Hamas, sondern auch an dem von ihr unterhaltenen Netz sozialer Einrichtungen. Demgegenüber sehen sich PA und Fatah immer neuen Korruptionsvorwürfen ausgesetzt.

Dabei kommen derartige, in den meisten Fällen begründete, Vorwürfe nicht nur von außen, sondern vor allem aus den eigenen Reihen. Erst kürzlich soll eine Gruppe von 400 Aktivisten aus Protest gegen das Finanzgebaren der Führung aus der Fatah-Bewegung ausgetreten sein. Zwar ist PA- und Fatah-Chef Yassir Arafat persönlich nach wie vor von der Kritik ausgenommen, weil es sich niemand leisten kann, das wichtigste Symbol des palästinensischen Nationalismus direkt anzugreifen. Doch dafür werden seine engsten Mitstreiter im PA-Kabinett und den höchsten Fatah- und PLO-Gremien um so heftiger unter Beschuss genommen, zum Teil sogar mit scharfer Munition.

So kam es Anfang Februar zu einem bewaffneten Angriff auf das Büro des PA-Polizeichefs im Gazastreifen, Ghazi Jabali. Hinter der Attacke, bei der mindestens elf Palästinenser verletzt wurden, standen nicht etwa IDF oder Hamas, sondern Anhänger des früheren PA-Sicherheitschefs von Gaza, Mohammed Dahlan. Hintergrund könnte die Verärgerung über die Absetzung Dahlans als PA-Sicherheitsminister durch Arafat gewesen sein. Jabali hingegen war nach Korruptionsvorwürfen von Arafat im Jahr 2002 entlassen, vor mehreren Monaten dann aber wieder eingestellt worden.

Einige Beobachter sehen derartige Vorfälle nur als Hinweis auf die Situation, die nach einem israelischen Rückzug entstehen könnte. Demnach würden sich PA- und Fatah-Gruppierungen in internen Machtkämpfen aufreiben und es so der Hamas ermöglichen, endgültig die Kontrolle im Gazastreifen zu übernehmen. Ob die jüngste IDF-Aktion an dieser Aussicht etwas geändert hat, ist mehr als fraglich. Alternativ plädiert etwa Yossi Beilin dafür, statt eines einseitigen Rückzugs lieber mit den »Gemäßigten« ein umfassendes Abkommen auszuhandeln. Da aber potenzielle Verhandlungspartner wie Mohammed Dahlan oder der in Israel inhaftierte Marwan Barghouti bei der Eskalation der »Al-Aqsa-Intifada« die maßgeblichen Kräfte waren, ist ebenso fraglich, ob Beilins Alternative weniger gefährlich wäre.