Shrimps und Sharia

Demokratisierung im Irak von jörn schulz

Er führt keine Partei, kontrolliert keine Miliz und tritt nur selten in der Öffentlichkeit auf. Doch wenn Ayatollah Ali Husseini al-Sistani sich zu Wort meldet, kann er sicher sein, dass US-Präsident George W. Bush ihm ebenso gut zuhört wie UN-Generalsekretär Kofi Annan. Denn ohne die Zustimmung des derzeit einflussreichsten schiitischen Geistlichen im Irak lässt sich kein Plan zur politischen Neuordnung realisieren.

Am Donnerstag der vergangenen Woche machte ihm der UN-Gesandte Lakhdar Brahimi seine Aufwartung. Bei diesem Treffen wurde ein Kompromiss ausgehandelt, der den Übergang zur Demokratie erleichtern dürfte. Brahimi unterstützte Sistanis Forderung nach direkten Wahlen, erklärte aber, diese müssten »gut vorbereitet« sein und zum »bestmöglichen Zeitpunkt« abgehalten werden. Ein Datum nannte er nicht, doch gilt als sicher, dass sein offizieller Bericht entgegen Sistanis Vorstellungen eine Verschiebung der ursprünglich für Ende Juni geplanten Übergabe der Macht an eine irakische Regierung empfehlen wird.

Die US-Administration muss nun zwar wahrscheinlich von den Plänen Abstand nehmen, die neue irakische Regierung indirekt wählen zu lassen. In Washington dürfte man jedoch eingesehen haben, dass sich das politische Kräfteverhältnis im Irak ohnehin nicht manipulieren lässt, und mit einer Zustimmung zur UN-Empfehlung würden die Besatzungsbehörden Zeit und vor allem Legitimität gewinnen.

Viele Irakis befürchten jedoch, dass sich hinter der Fassade einer formalen Demokratie ein System etablieren könnte, das die neu gewonnenen Freiheiten gleich wieder einschränkt. Um nach Jahrzehnten der Unterdrückung aller nicht arabisch-sunnitischen Bevölkerungsgruppen einen regionalen Ausgleich zu ermöglichen, soll das politische System föderalistisch organisiert werden. Den Parteifürsten und ihren Verbündeten könnte die Kontrolle über die regionalen Ressourcen eine fast unumschränkte Macht geben.

Sistani will keinen islamistischen Staat, er fordert jedoch die »Islamisierung« des Alltagslebens. Die Website des Ayatollahs (www.sistani.org) belehrt Rat suchende Gläubige darüber, ob sie masturbieren dürfen (»unter keinen Umständen«), welche Meerestiere zum Verzehr freigegeben sind (»alle, die Schuppen haben« sowie Shrimps) und wie eine korrekte Verschleierung aussieht. Für alle säkularen Irakis wäre es eine Katastrophe, wenn die reaktionären gesellschaftspolitischen Ansichten Sistanis sich durchsetzen würden.

Entspechend groß war die Empörung, als im Regierungsrat Ende Dezember das Dekret 137 verabschiedet wurde, das die Geltung der Sharia im Familienrecht vorsieht. Das Dekret sei »gegen die Regeln der Entscheidungsfindung, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern« zustande gekommen, kritisierte die ebenfalls im Regierungsrat vertretene KP. Die Ministerin Nisreen Barwari stellte sich an die Spitze einer Frauenrechtsdemonstration, die Proteste dauern seit Januar an.

Gesetzeskraft hat das Dekret ohne die Unterschrift des US-Verwalters Paul Bremer nicht. Der voreilige, offenbar von Vertretern schiitischer Organisationen unternommene Schritt hat jedoch zur bislang breitesten säkularen Mobilisierung geführt. Erst die Wahlen werden zeigen, ob die religiöse Rechte tatsächlich den Einfluss hat, den sie sich zuschreibt, oder ob nicht auch die Mehrheit der Schiiten das in katholischen Ländern übliche abgeklärte Verhältnis zur Religion entwickelt hat und die Geistlichkeit respektiert, ohne sich deshalb von ihr allzu viele Vorschriften machen lassen zu wollen.