Der Norden macht dicht

Die schwedische Regierung vollzieht eine drastische Wende in der Flüchtlingspolitik und will »Wohlfahrtstouristen« aus den neuen EU-Staaten fernhalten. von bernd parusel, stockholm

Kaum mehr als zwei Monate sind es noch, dann treten zehn Länder Mittel- und Südosteuropas der EU bei. Die Uhr tickt, und da wird Göran Persson auf einmal nervös. »Sollen wir als einziges Land zu den Menschen in Osteuropa sagen, dass sie hier willkommen sind, dass sie nur zehn Stunden arbeiten müssen und dann Zugang zu unserem Sozialsystem bekommen?« fragte der schwedische Ministerpräsident kürzlich die Presse. »Da wären wir naiv.«

Perssons sozialdemokratische Regierung hat plötzlich Angst davor bekommen, dass Schweden mit dem Tag der EU-Erweiterung von einer Einwanderungswelle aus Polen, Lettland oder Tschechien erfasst werden könnte. Sie fürchtet, dass wegen des freien Personenverkehrs in der EU tausende Habenichtse auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen nach Schweden reisen könnten, um fortan dem Sozialstaat auf der Tasche zu liegen. Um dieser vermeintlichen Gefahr vorzubeugen, plant die Regierung nun, Arbeitsuchende aus den Beitrittsländern vom Prinzip der Freizügigkeit auszunehmen. Weitere zwei Jahre lang sollen sie eine Arbeitserlaubnis beantragen müssen, bevor sie sich in Schweden niederlassen können. Andernfalls drohe Schweden eine Welle von »Wohlfahrtstourismus«, meint Persson.

In den meisten Ländern der EU sind solche Reden schon längst bekannt. In Deutschland warnte bereits im April 2000 das Münchener Ifo-Institut vor einer »Massenzuwanderung« aus den neuen Mitgliedstaaten und ermahnte die deutsche Bundesregierung, Sicherungen einzubauen und Einwanderung strenger zu kontrollieren. Wenige Monate später setzte es die deutsche EU-Delegation zusammen mit Österreich in Beitrittsverhandlungen mit den Kandidatenländern durch, dass die alten EU-Staaten Übergangsregeln erlassen können, mit denen auswanderungswillige Menschen im Osten für maximal sieben Jahre von den westeuropäischen Arbeitsmärkten und Sozialsystemen ferngehalten werden können. Heute, im Frühjahr 2004, haben alle Länder der EU außer Schweden, Großbritannien und Irland solche Beschränkungen eingeführt.

Persson gehörte bis vor kurzem zu den wenigen, die erklärten, die Bewegungsfreiheit der Menschen müsse vom ersten Tag an auch für diejenigen gelten, die neu in die EU kommen. Schwedens alternde Gesellschaft sei außerdem auf Einwanderung angewiesen.

Nun hat der Ministerpräsident eine Kehrtwende vollzogen, und Schweden erlebt seitdem intensive Debatten über den Umgang mit Einwanderern, aber auch mit Asylsuchenden und Flüchtlingen.

Oppositionspolitiker kritisierten, Persson rede wie die Rechtsextremen. Birgitta Carlsson von der Zentrumspartei sagte am vergangenen Mittwoch im Stockholmer Reichstag, Schweden sei dabei, dem Beispiel der rechten Regierung in Dänemark zu folgen, eine härtere Flüchtlingspolitik einzuschlagen und fremdenfeindlichen Kräften Auftrieb zu verschaffen. In der Presse häufen sich derweil Meldungen über die Diskriminierung von Einwanderern bei der Arbeitsvermittlung; Schriftsteller, Wissenschaftler und Solidaritätsgruppen beklagen auf den Debattenseiten der Zeitungen eine »moralische Krise« der Asylpolitik.

Schweden scheint nicht erst wie sein Nachbarland Dänemark eine rechte Regierung zu brauchen, um die Bedingungen für Flüchtlinge und Asylbewerber zu verschlechtern. Es ist die sozialdemokratische Migrationsministerin Barbro Holmberg, die gegenwärtig für eine Verkürzung und Beschleunigung der Asylverfahren wirbt und zu diesem Zweck unter anderem das Recht abschaffen will, nach einem erfolglosen Asylgesuch einen neuen »Folgeantrag« zu stellen.

Angesichts der Tatsache, dass etwa 90 Prozent aller Asylantragsteller ohne gültigen Ausweis nach Schweden kommen, setzt Holmberg außerdem auf höhere Strafen für Beförderungsunternehmen, etwa Fluggesellschaften oder Reedereien, die Ausländer nicht ausreichend auf korrekte Papiere kontrollieren.

Daneben soll das Dubliner Übereinkommen, nach dem Asylsuchende, die über einen »sicheren Drittstaat« nach Schweden einreisen, kein Asyl bekommen können, künftig strikter angewendet werden. Die meisten aller Asylsuchenden in Schweden kämen über solche Staaten, meint Holmberg, man könne es ihnen nur meistens nicht nachweisen.

Das soll jetzt mit Hilfe von computerisierten Fingerabdruckdateien geändert werden. Trotz all ihrer Bemühungen, die Zahl der Asylanträge zu reduzieren, erklärt die Sozialdemokratin jedoch nach wie vor, Flüchtlinge sollten in Schweden auch weiterhin einen »guten Empfang« und ein »rechtssicheres Asylverfahren« bekommen.

»Grauenhafte Heuchelei« werfen Kritiker Holmberg und der schwedischen Flüchtlingspolitik vor. »Ich werde richtig sauer, wenn ich sehe, wie fremdenfeindlich die schwedische Asylpolitik geworden ist«, meint Anita Dorazio von der »Reichsorganisation der Flüchtlingsgruppen und Asylsuchenden« (FARR) in Stockholm. Heuchlerisch sei es, wenn Schweden in der ganzen Welt von Freiheit, internationaler Solidarität und Menschenrechten spreche, aber gleichzeitig »keine Form findet, sich um eine begrenzte Gruppe leidender Menschen zu kümmern, die in unser Land kommt«, schreiben auch die Schriftsteller Lars-Olof Franzén, Karl Erik Lagerlöf und Ronny Svensson im Svenska Dagbladet.

Kurz zuvor wurde gemeldet, dass sich zwischen 7 000 und 10 000 Flüchtlinge aus Angst vor ihrer Abschiebung illegal in Schweden aufhielten, darunter etwa tausend Kinder. Obwohl die Möglichkeit besteht, auch bei nicht staatlicher Verfolgung ein Aufenthaltsrecht zu bekommen, etwa nach Naturkatastrophen oder aufgrund von Bedrohung wegen einer sexuellen Neigung, werden die entsprechenden Paragraphen so selten wie möglich angewendet und erhalten immer weniger Asylsuchende ein Bleiberecht.

Statistiken sagen zwar, dass die schwedischen Behörden wesentlich mehr Flüchtlingen ein Bleiberecht zubilligen als andere EU-Länder. Ende der neuziger Jahre erhielten zwischen 30 und 50 Prozent der Antragsteller einen Aufenthaltsstatus, zumeist aus humanitären Gründen. Die Quoten gehen jedoch seitdem zurück, während auch in Schweden die Abschiebemaschinerie an Fahrt gewinnt.

Über die Ursachen dafür, dass sich Schweden, einst großzügig bei der Aufnahme von Flüchtlingen und der Integration von Einwanderern, ähnlich wie andere europäische Länder immer mehr auf Restriktionen und Abschottung verlegt, gibt es unterschiedliche Theorien. Die Göteborger Wissenschaftlerin Elisabeth Abiri meint, Flüchtlingspolitik werde immer mehr unter dem Gesichtspunkt der »inneren Sicherheit« betrachtet, anstatt als eine Frage der Achtung von Menschenrechten, und dies gelte für ganz Europa. Der Wissenschaftler Jonas Widgren, Vorsitzender des internationalen Instituts für Einwanderungspolitik ICMPD, ist davon überzeugt, dass Schweden wegen der demographischen Entwicklungen eigentlich mehr Einwanderung braucht. Doch speziell in den »wohlgeordneten nordischen Ländern« hätten viele Menschen Angst davor, »dass jemand ohne Papiere im Wald auftaucht« und Asyl beantragt.

Als ein Versäumnis der Politik sind unter anderem einige Aspekte der Flüchtlingsaufnahme zu werten. Asylbewerber werden häufig in entlegenen Regionen des Landes untergebracht, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist und viele Menschen abwandern. Betroffene Gemeinden sehen in der Aufnahme von Asylbewerbern oft die einzige Möglichkeit, die Einwohnerzahl zu stabilisieren. Damit riskieren sie gleichzeitig aber eine Zunahme von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der örtlichen Bevölkerung.