Unsere Heimat, ihre Heimat

Angela Merkel und Gerhard Schröder haben die Türkei besucht. Deren Beitritt zur Europäischen Union wird nun zum Wahlkampfthema. von burkhard schröder

Angela Merkel hätte sich vor ihrem etwas verunglückten Besuch der Türkei vom Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG beraten lassen sollen. Hartmut Mehdorn weiß, was deutsche Wirtschaftsmänner wünschen. Die Bahn AG werde sich, so verkündete Mehdorn, gemeinsam mit der Türkei um den Bau einer neuen Bagdad-Bahn bewerben.

Als die Bahnstrecke Berlin-Istanbul-Bagdad zum ersten Mal beschlossen wurde, im Jahr 1903, lag dem das gleiche Motiv zugrunde wie heute: Deutschland stand in ökonomischer Konkurrenz zu den anderen Staaten Europas und pochte auf gleiche Rechte beim »Zugang zu den Schätzen Asiens und des Orients«, den Ölquellen.

Die deutsche Wirtschaft steht mit der Türkei schon lange auf gutem Fuße. 1 000 Joint-Ventures zwischen deutschen und türkischen Firmen zeigen die Richtung an. Die Ansichten von Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem Vorgänger Helmut Kohl unterscheiden sich in der Frage der Integration der Türkei in die EU nicht. Der kapitalistische Markt soll die Regeln schaffen, nach denen die Politik sich zu richten hat. Wenn die Türkei ökonomisch mit Europa erst eng verflochten sei, erledigten sich andere Konflikte wie von selbst. Folter und Zensur stören die Maximierung des Profits, weil Nutzen und Aufwand in der Regel in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Das sieht ein türkischer Kapitalist genau so wie ein deutscher.

Die deutsche Diskussion darüber, ob und wie die Türken in die Europäische Union gehören, ist daher reine Innenpolitik und Wahlkampf dazu. Die ideologischen Fronten verlaufen quer durch alle Parteien. Alle spekulieren darüber, wie ihre potenziellen Wählerinnen und Wähler beim Reizwort »Türkei« zu welchem Wahlverhalten zu bewegen seien. Die deutsche Diskussion über den Begriff der »Nation«, wer warum dazugehört und wer nicht, wiederholt sich im europäischem Maßstab.

Angela Merkel bot dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan eine »privilegierte Partnerschaft« an. Die Türkei hätte zwar einige Vorteile davon, aber kaum einklagbare Rechte. Die Türkei hat zwar den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten, aber niemand verhandelt mit ihr über einen Beitritt. Das entspricht auch der Haltung Merkels: nicht die Pferde scheu machen. Hinhalten und wegsehen.

Nicht zufällig spiegelt die Meinung der Anhänger Merkels in der CDU zum EU-Beitritt der Türkei auch den innenpolitischen Mainstream des ehemaligen konservativ-bürgerlichen Lagers wider. Man ahnt, dass das ius solis, ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht wie in Frankreich, letztlich nicht zu verhindern ist. Aber man darf diese Tatsache der Klientel, die man vertritt und die einen wählt, nicht verraten. Fiktionen haben eine größere Macht als rationale Argumente.

Edmund Stoiber (CSU) ist strikt gegen einen Beitritt. Er vertritt die klassische völkische Position, die mit dem rechten politischen Rand vereinbar ist. Die EU-Staaten verbinde »eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame religiöse Wurzeln im Christentum und Judentum, die Überwindung der Religionskonflikte durch Säkularisation«. Das ist alles frei erfunden und passt ins Bierzelt. Mit der Realität oder mit der Geschichte haben diese Thesen nichts zu tun. Der Islam hat etwa die Kultur Spaniens entscheidend geprägt. Außerdem sieht die Verfassung der Türkei eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche vor, im Gegensatz zum weitaus weniger säkularen Deutschland. Von der Türkei lernen, heisst für manche EU-Staaten, wie etwa für Polen, siegen lernen, wenn es darum geht, den Bezug auf ein höheres Wesen in der Verfassung wegzulassen.

Michael Glos (CSU) spielt wie gewohnt den Mann fürs Grobe: Die Türkei habe niemals zu Europa gehört, ihr Beitritt sei das »Ende des europäischen Projekts«. Welchen Projekts? Das Projekt einer Art Freihandelszone mit eigenem Außenminister oder das Projekt einer politisch definierten Union? Die CSU werde die Europawahl zu einer Volksabstimmung über den Beitritt der Türkei zur EU machen, darin sind sich Stoiber und Glos einig. Türken raus – bei den Völkischen also nichts Neues.

Es geht um die Frage: Welches Europa wollen die Bürgerinnen und Bürger? Und um die Entscheidung, ob in Europa das Primat der Politik oder der Ökonomie gelten soll. Hier trifft ein Argument Merkels, das aber im allgemeinen Palaver unterging. Die politische Integration müsse Priorität vor der wirtschaftlichen Erweiterung haben. Ihre Argumentation gleicht viel mehr derjenigen der Grünen, als beide Parteien zugeben würden.

Bundesaußenminister Joschka Fischer plädierte noch vor vier Jahren für die Idee eines europäischen Bundesstaates, für eine Europapolitik, die als Motor für eine demokratische Integration dienen könnte. Dieses Modell ist vorerst gescheitert. Und gescheitert ist auch die Reform des antiquitierten deutschen Staatsbürgerschaftsrechts. Ein kontroverser gesellschaftlicher Diskurs darüber, was an die Stelle des deutschen Nationalstaats des 19. Jahrhunderts und seines ius sanguinis treten könnte, findet nicht statt.

Kein Wunder, dass der Beitritt eines zwar säkular definierten, aber real mehrheitlich moslemischen Staates wie der Türkei zur Europäischen Union schlafende Hunde weckt, die außer den üblichen Verdächtigen in Bayern und den Stiefel- und Salonfaschisten niemand gern bellen hört. Die Konservativen sind nicht mehr dieselben wie zur Zeit Helmut Kohls. Keine Partei kann es sich noch leisten, die Community der Einwanderer zu ignorieren. Die Deutsch-Türken wählen zwar noch mehrheitlich sozialdemokratisch, das aber ist für die Zukunft nicht garantiert.

Der liberale Teil der CDU, für den Merkel steht, weiß das. Seine Hoffnung könnte sein, den liberalen türkischstämmigen Mittelstand, der sich in Deutschland allmählich formiert, zu umwerben. Der weltanschauliche Spagat, den das konservative bürgerliche Lager noch vor sich hat, ist ähnlich anstrengend wie der der SPD, deren Milieu nur noch in alten Liedern beschworen werden kann, aber faktisch zerbröselt ist. Die CDU nennt sich christlich, darf aber auch Mitglieder wie Bülent Arslan vom Deutsch-Türkischen Forum oder ihre jüdischen Mitglieder wie Michel Friedman nicht vergrätzen.

Der EU-Beitritt der Türkei eignet sich wie kein anderes Thema, die deutsche Diskussion auf den Punkt zu bringen. Es gibt nur zwei große Richtungen: eine, die sich auf religiöse Wurzeln beruft mitsamt der dazu passenden Stammklientel, und eine andere, die auf sozialen Bewegungen fußt, auf der Arbeiterbewegung. Die Grünen stehen exakt in der Mitte und haben von beiden etwas.

Der türkische Kulturkampf, der durch die Einwanderer schon längst nach Deutschland importiert wurde, ist dem deutschen vergleichbar. Die türkische »Leitkultur« beruft sich auf Kemal Atatürk und propagiert einen weltanschaulich neutralen Kapitalismus. Die Mehrheit der Bevölkerung in der real existierenden Türkei will jedoch die brutalen Gesetze des kapitalistischen Marktes, die die agrarischen Produzenten bedrängen, mit religiös motivierten sozialen Netzwerken à la Milli Görus abfedern.

Mit dem EU-Beitritt der Türkei als Thema im deutschen Wahlkampft ist es wie mit der Schwangerschaft: Ein bisschen geht nicht. Und wer zu dieser Propaganda greift, sollte auch gleich den urdeutschen Dichter Ludwig Uhland zitieren: »Zur Rechten sieht man wie zur Linken einen halben Türken heruntersinken.«