Die Agenten der Macht

Mit Intrigen und Manipulationen hat der Kreml den Weg zur Wiederwahl des Präsidenten Wladimir Putin geebnet. von ute weinmann, moskau

Der Sieger steht bereits fest, dennoch ist man in Russland bemüht, die allgemein üblichen demokratischen Minimalanforderungen an eine Präsidentschaftswahl wenigstens formal zu erfüllen. Nichts leichter als das, immerhin findet sich auch hier die für einen echten Wahlkampf notwendige Anzahl an Opponenten, das Fernsehen stellt teils kostenfrei, teils gegen eine fette Gebühr die für Werbemaßnahmen unabdingbaren technischen Voraussetzungen, und potenzielle Wähler gibt es sowieso mehr als genug. Dass deren Stimmen bereits mehrheitlich für den amtierenden Präsidenten reserviert sind, verleiht der gesamten Prozedur lediglich ein wenig Berechenbarkeit. Mitmachen dürfen schließlich alle, auch die ewig Unzufriedenen.

Wer sich jedoch einen Wahlkampf mit erhitzten Fernsehdebatten und Schlagabtausch erhofft hatte, wurde schnell enttäuscht. Der amtierende Präsident Wladimir Putin erklärte von Anfang an, auf derartige Veranstaltungen verzichten zu wollen. Auf einer medialen Repräsentation bestand der Präsident dennoch mit der Arroganz der Macht und ließ eine Großveranstaltung mit seinen Anhängern im Fernsehen übertragen. Die Medien melden einen angeblichen Erfolg des Präsidenten nach dem anderen und lassen den Eindruck entstehen, Russland ohne Putin sei praktisch unvorstellbar und liefe Gefahr, regelrecht im Chaos zu versinken.

Das Erfolgsrezept Putins liegt zu einem nicht unwesentlichen Teil in der virtuosen Ausschaltung der politischen Opposition durch seine professionellen und zuverlässigen Helfer in der Kremladministration. Fatalerweise tragen die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) und die Liberalen aus dem Umfeld der Jabloko-Partei und der Union der rechten Kräfte (SPS) bereits seit geraumer Zeit aktiv zu ihrer Marginalisierung bei. Nach ähnlichem Muster, nur im Zeitraffer, verlief die Karriere des politischen Shootingstars des vergangenen Jahres, Sergej Glazjew.

Aufstieg und Fall

Glazjew galt als kluger Wirtschaftswissenschaftler mit reichhaltiger politischer Erfahrung, als er im Vorjahr versuchte, sich einen Platz an der Spitze der KPRF zu erobern. Unzufrieden mit dem Angebot, den Vorsitz des wirtschaftspolitischen Ausschusses in der Duma zu übernehmen, zog er sich aus der KPRF zurück. Unmittelbar darauf wurde der Block Rodina (Heimat) von den Kremltechnologen wie Plastikgeschirr für den einmaligen Gebrauch entworfen. Das Ziel der Operation war, die KPRF zu schwächen und ihre Wähler an den neu geschaffenen Block zu binden. Glazjews politische Forderungen nach der Einführung einer Rohstoffabgabe passten erstklassig zur Kampfansage des Kreml an die so genannten Oligarchen rund um den Ölkonzern Jukos.

Nach dem glänzenden Erfolg bei den Dumawahlen mit neun Prozent beabsichtigte Glazjew, als Kandidat des Blocks für das Präsidentenamt anzutreten. Doch Rodina entschied anders, auch hätte die Präsidialadministration sicherlich keinerlei Gefallen an einer derart starken Konkurrenz zu Putin gefunden. Kurz und gut, die folgenden Steitigkeiten endeten für Glazjew mit dem Rausschmiss als Fraktionsvorsitzender der inzwischen als Partei registrierten Rodina. Er hat ausgedient und ist bei Wahlumfragen inzwischen gar hinter den Kandidaten der Agrarier-Partei und der KPRF, Nikolaj Charitonow, zurückgefallen.

Doch geht es unter Putins autoritärer Herrschaft um mehr als nur darum, populäre Kandidaten in ihre Schranken zu weisen. Der Fall des vom bekanntesten Auslandsoligarchen, Boris Beresowski, finanzierten Präsidentschaftskandidaten Iwan Rybkin zeigt, dass dem Kreml jedes noch so absurde und intrigante Mittel recht ist, um zu verhindern, dass das Bild des starken Präsidenten und Saubermannes Putin einen Kratzer erhält.

Der verschwundene Kandidat

Rybkin eilte der Ruf eines ernst zu nehmenden Politikers voraus, der niemals durch private oder politische Eskapaden aufgefallen war, bis er Anfang Februar plötzlich für mehrere Tage spurlos verschwand. Wenige Tage zuvor hatte er harsche Kritik an Putins autoritären Machenschaften und dessen verheerender Tschetschenienpolitik geübt. Des weiteren nannte er die Namen von Vertretern des Großkapitals, die Putin begünstigt haben soll, und kündigte weitere Enthüllungen an.

Rybkin tauchte mehrere Tage nach seinem Verschwinden in Kiew auf, wo er nach seinen eigenen, völlig diffusen Angaben »einfach nur ein paar Tage ausspannen« wollte. Dann hieß es plötzlich, ihm sei ein Treffen mit dem tschetschenischen Separatistenführer Aslan Maschadow in Aussicht gestellt worden. Die Unfähigkeit, logisch klingende Sätze zu formulieren und sein Verschwinden in einen glaubhaften Kontext zu stellen, ließ die Öffentlichkeit an Rybkins Zurechnungsfähigkeit zweifeln.

Von London aus gab Rybkin schließlich bekannt, entführt und unter Drogen gesetzt worden zu sein. Es braucht nicht viel Fantasie, um die russischen Geheimdienste mit der Entführung in Verbindung zu bringen, doch mag dem Politiker nun niemand mehr so recht Glauben schenken. In der vergangenen Woche zog Rybkin seine Kandidatur mit der Begründung zurück, er wolle an dieser Farce nicht weiter teilnehmen.

Auch Irina Chakamada, die sich als einzige Politikerin der beiden größeren liberalen Parteien Jabloko und SPS für die Beteiligung am Wahlkampf nicht zu schade war und die mit der Wahl verbundene öffentliche Aufmerksamkeit für Kritik an Putins Regime nutzen wollte, kündigte aus Protest über den Verlauf des Wahlkampfes zwischenzeitlich die Niederlegung ihrer Kandidatur an und forderte auch Glazjew und Charitonow auf, dies zu tun. Doch sprachen sich beide dagegen aus, und im Alleingang rechnet sich Chakamada keine Chancen aus, durch eine Absage die Wahlbeteiligung eventuell unter 50 Prozent drücken zu können. Dies wäre die einzige Möglichkeit, Putin aus dem Rennen zu werfen, denn bleibt diese Hürde unerreicht, wird der Wahlgang ungültig, und keiner der Kandidaten darf in einem solchen Fall nochmals antreten.

Überraschende Entlassung

Doch Putin selbst steht nicht zur Disposition. Stattdessen entließ er am 24. Februar überraschenderweise die Regierung des Premierministers Michail Kasjanow. Nach eigenen Aussagen sei ihre Tätigkeit »befriedigend« gewesen. Kritiker warfen Kasjanow hingegen Passivität vor und sahen in ihm eine Bremse für ökonomische Strukturreformen, da er sich zu sehr an den hohen Ölpreisen auf dem Weltmarkt orientiert habe.

Doch gerade sein passives Verhalten hat ihm die relativ lange Amtszeit erst ermöglicht. Innerhalb der Regierung fanden ständige Auseinandersetzungen um den ökonomischen Kurs zwischen den so genannten Reformern um die ambitionierte Petersburger Clique von Hermann Gref und Aleksej Kudrin und den Pragmatikern statt. Letztgenannte lassen sich kaum als Gegner neoliberaler Reformen bezeichnen, doch begriffen sie, dass sprunghafte Veränderungen unter den derzeitigen Bedingungen in Katastrophen münden können, die möglicherweise nicht mehr kontrollierbar wären. Auch für Putin war diese Linie in gewisser Weise von Vorteil, denn solange er von der Konsolidierung seiner Macht in Anspruch genommen war, schien es klüger, eventuelle Risiken durch ökonomische Experimente auf ein Minimum zu reduzieren.

Doch weshalb entschied er sich dann ausgerechnet kurz vor den Wahlen zu einer Kursänderung? Handelt es sich um eine Geste, um seine Autorität unter Beweis zu stellen, wie er selbst behauptet? Um einen planmäßig durchgeführten und sorgfältig vorbereiteten Akt? Oder gibt es Grund zu der Schlussfolgerung, dass es um die Macht des Präsidenten nicht allzu gut bestellt ist? Schenkt man den Informationen »aus eingeweihten Quellen« Glauben, welche die Wochenzeitung Moskowskije Nowosti vergangene Woche veröffentlichte, ergibt sich folgendes desaströses Bild.

Anfang Februar soll eine Gruppe aus dem Dunstkreis der so genannten Silowiki, der Angehörigen des Sicherheitsapparates, darunter Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow und die stellvertretenden Kremlverwaltungschefs Igor Setschin und Viktor Iwanow, über einen Vermittler an Kasjanow herangetreten sein. Ihre Interessen sollten bei der in diesem Jahr anstehenden Privatisierung einer Reihe lukrativer Transportunternehmen und produzierender Betriebe – es geht dabei um einen Wert von insgesamt etwa 1,2 Milliarden Dollar – angemessen berücksichtigt werden. Nach dem Ausbleiben von Reaktionen des Premiers sollen die Kremlfunktionäre Putin vor einer Machtverschiebung zugunsten des Parlaments und einer niedrigen Wahlbeteiligung gewarnt und gedroht haben, Kasjanow könnte womöglich selbst in den anstehenden Wahlen kandidieren. Demnach stand Putin unter Druck, den potenziell gefährlichen Konkurrenten Kasjanow so schnell wie möglich loszuwerden.

Der Umstand, dass Putin nicht sofort einen alternativen Wunschkandidaten für Kasjanows Posten benennen konnte, mag für diese Version sprechen, stellt jedoch zumindest die Planmäßigkeit der Entlassung in Frage. Die sich anschließende fieberhafte Suche nach einem passenden Nachfolger gestaltete sich offenbar nicht ganz einfach. Die dem Präsidenten nahe stehende Partei Jedinaja Rossija (Einiges Russland) schlug vor, den neuen Premier auf Basis der Mehrheit im Parlament zu ernennen. Im Kreml fand dieser Plan keine Zustimmung, denn er hätte eine Aufwertung des Regierungschefs zur Folge. Aus präsidialer Sicht war ein Nachfolger gefragt, der loyal und für alle Fraktionen im Machtapparat akzeptabel ist. Der ideale Kandidat fand sich letztlich in Brüssel in der Person des russischen EU-Botschafters Michail Fradkow.

Der neue Premier

In der Tat kann man sich zu gegebener Stunde keine geeignetere Figur für das Amt des Premierministers vorstellen. Allein Fradkows Herkunft verspricht, die eklatanten Interessengegensätze innerhalb des Machtapparates auszugleichen. In einer Quelle ist die Rede davon, bei ihm handele es sich um den in ökonomischen Fragen versiertesten Mann aus dem Umfeld der Sicherheitsstrukturen und gleichzeitig um den Wirtschaftsfachmann mit der größten Affinität zu den Silowiki. Fradkow hatte noch zu Sowjetzeiten einen hohen Posten im Ministerium für Außenhandelsbeziehungen inne, in den neunziger Jahren brachte er es gar bis zum Rang eines Ministers unter Premier Viktor Tschernomyrdin. Unter Putin konnte er Erfahrung als stellvertretendem Sekretär des Sicherheitsrates und als Chef der Steuerpolizei bis zu ihrer Auflösung im vergangen Jahr sammeln.

Fradkows Pläne als Premier enthalten drei zentrale Punkte: Die Anzahl der Ministerien und deren Zuständigkeiten sollen verringert werden. Er will die allgegenwärtige Korruption bekämpfen und tritt für die Erhöhung des Verteidigungshaushaltes ein. Es wird erwartet, dass Kudrin und Gref wichtige Posten in der neuen Regierung erhalten und die Position der wirtschaftsliberalen Fraktion dadurch gestärkt wird.

Wegen der plötzlichen Umgestaltung der Regierung ging eine weitere Meldung in den Medien beinahe unter. Der Ölgigant Sibneft von Roman Abramowitsch, der noch unlängst von der Jukos-Affäre profitiert hat, soll Steuernachzahlungen in Höhe von einer Milliarde Dollar leisten. Noch ist unklar, ob damit ein Wendepunkt im Umgang mit dem Kreml verbundenen Oligarchen eintritt. Im Unterschied zu dem nach wie vor inhaftierten Jukos-Chef Michail Chodorkowski pflegt Abramowitsch enge Kontakte zum Machtzentrum und hegt keinerlei politische Ambitionen.

Sibneft hat sich noch nicht öffentlich geäußert, aber womöglich ist die Milliarde angesichts der umfangreichen Pläne von Fradkow schon fest eingeplant. Woher sollen die nötigen Finanzen für einen erhöhten Verteidigungshaushalt sonst kommen? Dieser Punkt macht stutzig. Russland wieder als Großmacht zu etablieren, liegt schon seit geraumer Zeit im Trend, und unter der neuen Regierung scheint dies konkretere Gestalt anzunehmen. Solche Vorhaben gestalten sich zudem leichter als soziale Reformen und treffen weitgehend auf das Verständnis der Bevölkerung.

Elf Euro für den Monat

An den sozialen Gegensätzen im Land wird sich indes nichts ändern. Das herrschende Establishment ist viel zu sehr mit der eigenen Vermögenssicherung beschäftigt, als dass für den Großteil der Bevölkerung etwas abfallen würde. Russland darf sich inzwischen rühmen, 25 Dollarmilliardäre zu beheimaten. Ihnen gegenüber stehen nach Angaben des Arbeitsministeriums vom Februar dieses Jahres 3,85 Millionen Arbeitnehmer, welche über ein offizielles Einkommen von weniger als 400 Rubel (umgerechnet etwa elf Euro) im Monat verfügen. Dabei beträgt das staatlich festgelegte Existenzminimum für Erwerbstätige derzeit etwa 60 Euro. Das Einkommen von 15 Prozent der Arbeitnehmer liegt zwischen 400 und 1 000 Rubel.

Die Akademie der Wissenschaften schätzt den Anteil der unter der Armutsgrenze Lebenden auf circa ein Drittel der Bevölkerung, also ungefähr 50 Millionen Menschen. Als Berechnungsgrundlage dient dabei ein so genannter Nullwert, welcher sich im Wesentlichen zusammensetzt aus einem abgetrennten Wohnraum, diversen Einrichtungsgegenständen und der Möglichkeit, im Notfall kostenlose ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen sowie den Kindern die in Russland unerlässliche außerschulische Bildung finanzieren zu können. Dieses Niveau erreichen gerade mal weitere 30 Prozent. Beide Schichten eint völlige Perspektivlosigkeit, man will sich mit allem abfinden, Hauptsache, es kommt nicht noch schlimmer. Paradoxerweise gilt Putin als Garant eben dafür.

Nach wie vor gehört es in vielen Betrieben zur Praxis, Löhne teilweise über Monate gar nicht oder nur teilweise auszuzahlen. Noch in den neunziger Jahren fanden in einigen Regionen soziale Kämpfe auf einer breiten Aktivistenbasis statt. Jedoch lässt sich mittlerweile eine andere Tendenz beobachten. Immer häufiger sehen sich einzelne Arbeiter gezwungen, für ihren an sich schon miserablen Lohn in den Hungerstreik zu treten. Ein Arbeiter einer Maschinenbaufabrik in Jasnogorsk verweigert bereits seit vier Wochen die Nahrungsaufnahme, in Tula haben einige Ärzte einen Hungerstreik begonnen. Angesichts solch verheerender Zustände fällt es immer schwerer, sich reale Wege aus dieser desolaten Situation vorzustellen.