Mörder von Anfang

Eine politische Lektüre des Evangeliums nach Johannes. von stefan ripplinger

Wer, weil er den Film von Gibson oder den von Pasolini gesehen hat, zu den Quellen hinaufsteigt, wird finden, dass es schmutzige sind. Die frühen Dokumente des Christentums, die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe, sind politische Pamphlete. Sie dienten einer Splittergruppe dazu, sich vor der Mutterpartei zu profilieren und sie schließlich zu überwinden. Kein Winkelzug schien, dies Ziel zu erreichen, zu schäbig. Da es ums politische Überleben ging, hielt man Klitterung, Verzerrung, Ridikülisierung, Dämonisierung ebenso für erlaubt wie Plünderung und Vernebelung. Wer jemals Mitglied einer politischen Gruppe war, wird all das kennen; und wir andern haben unseren Trotzki gelesen.

Antisemitisch sind diese Schriften in dem Maße, in dem es antikommunistisch ist, wenn ein Kommunist einen anderen einen Antikommunisten heißt. Sie sind es vielleicht nicht der Absicht, wohl aber der Wirkung nach.

Der Verfasser des Johannes-Evangeliums konnte nicht ahnen, dass sein Satz, die Juden seien Ausgeburten des Teufels (8,44), von Julius Streicher in Nürnberg angeführt werden würde. Gleichwohl ist dieser Satz nicht bloß Lemma, sondern Kernstück eines zutiefst antisemitischen Pamphlets, das nicht nur vom ersten bis zum letzten Satz gegen die jüdische Orthodoxie polemisiert, sondern alle, die jüdischen Glaubens, ja jüdischer Herkunft sind, als »Diebe«, »Mietlinge«, »Lügner«, »Mörder« verflucht. Dieses Evangelium richtet sich gegen die namentlich so genannten »iudaioi«, die Juden.

Um zu verstehen, weshalb ein Jude die anderen Juden »Juden« schimpft, muss man sich die historische Situation vergegenwärtigen, in der die Schrift, vermutlich von einem einzigen Autor, vermutlich gegen Ende des ersten Jahrhunderts u.Z., abgefasst wurde. Nachdem die Römer den großen Aufstand der Juden niedergeschlagen und den zweiten Tempel in Asche gelegt hatten, zerfiel die jüdische Autorität; die hohe Zeit der Gnostiker, Sektierer und Abweichler brach an. Was sich in den ersten Jahren nach dem Tod Jesu als eine Art Judenchristentum etabliert hatte, also noch immer die kultischen Gesetze einhielt, war unter dem Einfluss des hellenisch gesinnten Paulus keck geworden und hatte auch außerhalb der jüdischen Siedlungen zu wildern begonnen. Die Gelegenheit war günstig, nun, da sie geschwächt war, sich von der Mutterkirche abzuspalten und christlich, das heißt dezidiert antijüdisch, zu werden. Wenn Jesus die Jünger warnt, sie würden aus der Synagoge geschlossen (16,2), heißt das, dass sie ihr vorerst noch angehört haben und dass sie sie nun verlassen sollen; und das gilt auch für Johannes’ direkte Adressaten.

Die Abspaltung konnte nur von einem Schriftsteller ins Werk gesetzt werden, der über eine intime Kenntnis der jüdischen Bräuche und Bücher verfügte. Der angebliche Johannes kannte, vermutlich über den jüdischen Denker Philo, die griechische Tradition, mit der jüdischen aber war er aufs Genaueste vertraut. Theologen zählen in dem relativ kurzen Evangelium weit über 100 offene und verdeckte Anspielungen auf die Bücher des Alten Testaments. Noch bevor Jesus erscheint, hat bereits der Täufer die jüdischen Autoritäten herausgefordert und sie in eine theologische Disputation verwickelt; deren mehrere, immer schärfere, folgen. Wie schon bei den Synoptikern Matthäus, Markus, Lukas spricht der »Rabbi« Jesus (1,38) fast ausschließlich in den geflügelten Worten der Propheten, und hier vollbringt er seine Zeichen ausschließlich an hohen jüdischen Festtagen. Absichtsvoll übertritt er die Gebote, verletzt er die Gefühle; er trifft, weil er zu zielen weiß.

Gezielte Provokation und geschickte Umdeutung greifen ineinander. Am provozierendsten und geschicktesten an jener aufreizenden Stelle, die so sehr vom Rest absticht, dass Rudolf Bultmann meinte, sie könne gar nicht vom Autor selbst stammen: »Denn das Heil kompt von den Jüden. Aber es kompt die zeit / vnd ist schon jtzt / Das die wahrhafftigen Anbeter werden den Vater anbeten / im Geist vnd in der Warheit.« (4,22f.)

Allein deshalb werden die Juden als Heilsbringer, als Wegbereiter und Propheten des Messias gewürdigt – »Moses hat von mir geschrieben« –, weil nun, da er gekommen ist, und mit ihm Geist und Wahrheit, ihre Mission erfüllt und ihre Schrift Makulatur ist. Ein strenger Jude muss, wenn er nicht Verräter an seiner eigenen Prophetie sein, Formalist, ja Teufelsbrut werden will, auf der Stelle seinem Glauben, seiner Herkunft absagen und Nachfolger eines Mannes mit schwerem God complex werden. Das ist viel verlangt, und vor allem ist es schlecht begründet.

Als Köder wirft Jesus den »Geist« aus, der im Anfang aus Gottvater und nun aus ihm, dem Sohn, leuchtet. Auf diesen phosphoreszierenden Geist allein beruft er sich, ohne auch nur ein einziges Mal anzugeben, wes Geistes Kind er ist. »Die wort die ich rede / die sind Geist vnd sind leben« oder auch Licht, Glauben, Wahrheit. Aber welcher Geist, welches Leben, welches Licht, welcher Glauben, und vor allem welche Wahrheit? Bultmann bemerkt, dass die Offenbarung, die Jesus bringt, allein in der Behauptung besteht, er sei die Offenbarung. So hat er in den Streitgesprächen mit den jüdischen Priestern leichtes Spiel. Sie wollen seine Lehre hören, er gibt ihnen Leere, sie wollen Gehalte, er speist sie mit Geist ab. Aber indem er nichts sagt, sagt er auch nichts Falsches, und das Nichts überdauert die Jahrtausende.

Was bloß ein Taschenspielertrick des Verfassers ist, ist zum festen Bestand des christlichen Antisemitismus geworden. Die Juden haben lediglich Schriften, Gesetze, Traditionen, die Christen aber das lebendige Wort, den Geist. Und wenn einer zwei gedruckte Glaubenssätze nebeneinander hält, soll der eine der verdorrte Weinstock, der andere aber der fruchttragende sein. Das ist zwar bloß fromme Einbildung, die aber doch Brisanz gewinnt, wenn der, der’s nicht glaubt, ein Unseliger sein muss.

»IR seid von dem Vater dem Teufel / vnd nach ewers Vaters lust wolt jr thun. Derselbige ist ein Mörder von anfang / vnd ist nicht bestanden in der Warheit / Denn die warheit ist nicht in jm. Wenn er die Lügen redet / so redet er von seinem eigen / Denn er ist ein Lügener vnd ein Vater derselbigen. Ich aber / weil ich die warheit sage / so gleubet jr mir nicht.« Glaube oder glaube nicht, friss oder stirb. Wenn du aber nicht glauben kannst, bist du nicht bloß begriffsstutzig, sondern Mörder von Wahrheit und Leben, des Fleisch gewordenen Worts, also auch des Menschen, ja des Menschen an sich, denn am Kreuz ist der Jude Mensch geworden, wie der katholische Eiferer Léon Bloy unter Berufung auf Johannes schreibt (»Le Salut par les Juifs«, 1905). Die Juden sind in dieser hinterhältigen Geschichte die Mörder, noch bevor sie sich von ihrem ersten Schreck erholt haben. Von Feindesliebe ist, anders als bei den Synoptikern, keine Rede mehr. Der antrat, die Juden zu unterwerfen und zu vertilgen, nennt sie Unterwerfer und Vertilger.

Von jeher erschlagen die Söhne die Väter, die Brüder ihre Brüder. Wenn aber der Mörder sein Handwerk versteht, drückt er dem Erschlagenen die Waffe in die Hand.