Der schwere Weg nach Europa

Kurden, Zypern, Menschenrechte: Die Türkei bemüht sich um ihr Image. Über den Terrorismus der Hizbollah spricht man lieber nicht. von sabine küper-büsch, istanbul

Wir hoffen sehr, dass ab Dezember der Countdown für uns läuft«, erklärte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan neulich auf einer Pressekonferenz. »Aber auch wenn gegen uns entschieden wird, werden wir unbeirrt an unserem Reformkurs festhalten.« Das ist eine tapfere Diplomatie zu Beginn eines Jahres, an dessen Ende eine für die Türkei historisch wichtige Entscheidung getroffen wird. Erdogan weiß nur zu gut, wie maßlos groß die Enttäuschung sein wird, falls Brüssel im Dezember die Aufnahme von Gesprächen über eine Vollmitgliedschaft der Türkei ablehnen sollte.

1999 erhielt Ankara ein prinzipielles Okay für die Kandidatur – unter der Voraussetzung, dass eine streng formulierte Agenda, die so genannten Kopenhagener Kriterien, umgesetzt werde. Nach Erscheinen des Fortschrittsberichts der EU–Kommission im November 2003 allerdings bezeichnete vor allem das konservative Lager in der EU Aufnahmegespräche ab Juli 2005 als unrealistisch. Viele Gesetzesänderungen wie jene, die das Kurdische an Sprachschulen und in den Medien erlaubt, seien nur auf dem Papier, nicht aber in der Praxis vollzogen. Der Konventspräsident Valerie Giscard d’Estaing verkündete provokant, ein Beitritt der Türkei bedeute das Ende der EU. Historisch habe das Land keine Gemeinsamkeiten mit Europa, außerdem grenze sein Territorium an Staaten wie Iran, Syrien und Irak. Solche Grenzen sprengten die Kapazitäten der EU. Diese Äußerungen bezeichnete der frühere Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu als Polemik. Schließlich bestehe seit 1963 ein Assoziierungsabkommen mit dem Ziel eines türkischen EU-Beitritts, und seitdem hätten sich weder die Grenzen der Türkei noch ihr geschichtlicher Hintergrund verändert.

Im Zentrum der europäischen Kritik steht immer wieder das türkische Militär. Der sich nach dem Modernisierungsauftrag des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk als Erzieher des Volkes und Bewahrer der inneren Sicherheit und politischen Stabilität definierende Generalstab sieht sich selbst hingegen als völlig kompatibel zum europäischen Demokratieverständnis. Sinazi Demir, General der Landstreitkräfte a.D. und Militärexperte des türkischen Privatsenders CNN-Türk, erklärte, dass nach dem 11. September 2001 die Türkei für Europa aus strategischer Sicht wichtiger geworden sei: »Schauen Sie sich an, was in Europa los war nach den Anschlägen von Madrid: Panikstimmung. Aber uns hat man dafür kritisiert, dass nach den Anschlägen im November in Istanbul das Militär die Straßenkontrollen übernommen hat. Dabei wurde das von unserer Bevölkerung als beruhigend empfunden. Es kam zu keiner großen Panik. Die Täter wurden rasch aufgespürt und dingfest gemacht.«

Nach den Anschlägen auf die Istanbuler Synagoge im November beeilte sich die türkische Regierung zu erklären, die Täter seien Einzelpersonen mit Verbindungen zum internationalen Terrornetz Ussama bin Ladens; in der Türkei gebe es keine extremistische Basis. Dabei wimmelt es in den Gefängnissen nur so von Militanten der Hizbollah, die für über tausend Morde an Zivilisten im kurdischen Südosten verantwortlich sind. Ungefähr 800 sind noch inhaftiert, 257 stellten einen Antrag, von dem »Gesetz zur Resozialisierung« zu profitieren, das ursprünglich dazu gedacht war, die restlichen PKK-Kämpfer aus den Bergen zu locken. 231 Angehörige der Hizbollah wurden bereits im vergangenen Jahr aus der Haft entlassen. Und im kurdischen Südosten hat die Bewegung immer noch eine breite Basis.

Auch der General a.D. Sinazi Demir glaubt, dass die Attentäter von Istanbul aus der Umgebung der Hizbollah kamen, betont jedoch, dass das türkische Militär die in den neunziger Jahren sehr gefährliche Bewegung im Jahr 2000 mit der Eliminierung des Anführers ihrer militanten Fraktion, Hüseyin Velioglu, besiegt habe. Tatsächlich gingen die Streitkräfte nach der Ergreifung Velioglus mit einer Großoffensive gegen die Organisation vor, deren Archiv und Mitgliederkartei man beim Anführer gefunden hatte. In der ganzen Türkei wurden Gärten von der Hizbollah gehörenden Villen umgegraben und zahlreiche Leichen exekutierter Gegner gefunden. So mancher der rund 2000 unaufgeklärten Morde aus den Neunzigern kam ans Tageslicht.

Aber auch das Militär spielte dabei eine unrühmliche Rolle. Die Hizbollah war in zwei Fraktionen gespalten: Menzil (Reiseetappe) und Ilim (Wissen). Beide Gruppen favorisierten ein Gesellschaftssystem wie im Iran. Menzil wollte dieses Ziel jedoch mit friedlichen Mitteln, Ilim im bewaffneten Kampf erreichen. Der so genannte Kontra-Guerilla-Arm der türkischen Streitkräfte bediente sich in den Neunzigern Ilims, um Gegner loszuwerden und die Angst in der Bevölkerung zu schüren. Gleichzeitig ließ man Ilim freie Hand, politische Gegner zu erpressen oder zu eliminieren.

Das Militär entledigte sich der insgeheim verachteten islamistischen Kampftruppe erst, als die PKK geschlagen und ihr Führer Abdullah Öcalan gefangen genommen war. Ihre Basis ist damit allerdings nicht verschwunden, vielmehr erhielt sie mit dem 11. September neuen Auftrieb und orientierte sich international. Vereine wie Özgür-der (siehe Interview auf det Seite 13) tauchten auf und definierten sich als Teil einer internationalen Intifada. Nach der Ermordung des Hamas-Führers Scheikh Yassin in Gaza fand letzte Woche ein Gedenkgottesdienst, bezeichnenderweise von Özgür-der veranstaltet, in der Ulu-Moschee von Diyarbakir im Südosten der Türkei statt.

Auch wenn sich die Organisation von Gewalt distanziert, so ist doch auffällig, dass sie direkt nach den Anschlägen von Istanbul eine Zweigstelle in Diyarbakir eröffnete, wo sie seitdem Agitationsveranstaltungen organisiert. So zum Beispiel vor zwei Wochen eine »Märtyrernacht« zum Jahrestag der Giftgasangriffe von Halapca, bei der Burhan Kavuncu, früher Herausgeber der der Hisbollah-Menzil nahe stehenden Zeitschrift Yeni Yeryüzü (Neue Welt), als Hauptredner auftrat.

Die gewalttätige islamistische Szene arbeitet konspirativ, und auch das türkische Militär und die Regierung haben kein Interesse an einer zu großen Öffentlichkeit. Eine Debatte um eine islamistische Bewegung mit militantem Potenzial wäre im Hinblick auf die EU-Entscheidung sicher nicht dienlich. Unter Erklärungszwang geraten Erdogan und sein Außenminister Abdullah Gül bereits bei dem Verfahren gegen die vier seit zehn Jahren inhaftierten kurdischen Abgeordneten der verbotenen »Demokratie-Partei«. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde es im letzten Sommer vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara wieder aufgerollt. Doch die daran geknüpften Hoffnungen wurden enttäuscht, das Verfahren wird verschleppt, die Angeklagten nehmen aus Protest inzwischen nicht mehr an den Sitzungen teil.

Ein weiterer Schock für die Regierung Erdogan-Gül war es, dass in Griechenland der für einen EU-Beitritt der Türkei plädierende Yorgos Papandreou die Wahl gegen seinen konservativen Gegner Kostas Karamanlis verlor. Vor allem die Zypernfrage wird immer wieder zum Problem. Vergangene Woche fiel Erdogan aus allen Wolken, als der Führer der türkischen Zyprioten, Rauf Denktas, erklärte, er werde nicht an den von der UN geführten Verhandlungen in der Schweiz teilnehmen (Siehe Seite 13). Immerhin demonstrierten sowohl Erdogan als auch Karamanlis Eintracht, als sie zusagten, dort höchstpersönlich ihre Regierungen zu vertreten.