Alibi Europa

Aus dem Zentrum gegen Vertreibung soll ein europäisches Netzwerk werden. Alles unter deutscher Führung. von jörg kronauer

Ein Europäisches Netzwerk gegen Vertreibungen? »Ich sehe überhaupt keinen Bedarf, die Debatte weiter zu führen«, erklärt Jan Sechter, Botschaftsrat der tschechischen Botschaft in Berlin. Über die Umsiedlung der Deutschen gibt es in Prag und an der Spree unterschiedliche Auffassungen. Im Januar 1997 ist man in der deutsch-tschechischen Erklärung übereingekommen, sie nebeneinander stehen zu lassen. Die Erklärung sei, das betont Sechter, weiterhin »maßgebend«, eine Neubewertung der Umsiedlung lehnt er ab.

Eine Neubewertung könnte sich freilich aus einer Initiative entwickeln, die am 22. und 23. April in Warschau besprochen wurde. Der polnische Kultusminister Waldemar Dabrowski hatte in den Zamek Krolewski eingeladen, den Königspalast im Zentrum der polnischen Hauptstadt. Gekommen waren Abgesandte Deutschlands, Österreichs, Ungarns, Tschechiens und der Slowakei. Anlass des Treffens war der Plan für ein »Europäisches Netzwerk gegen Zwangsmigration und Vertreibung«.

Erfolgreich sei die Konferenz gewesen, lobt die deutsche Kulturstaatsministerin Christina Weiss: »Erstmals seit 1945 ist es uns gelungen, die Diskussion über Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert auf politischer Ebene in einen europäischen Rahmen zu stellen.« War die Umsiedlung bisher ein Thema, das bilateral mit einzelnen Staaten verhandelt wurde, so wird sie jetzt Gegenstand einer internationalen Debatte. Sie entzieht sich damit immer mehr der Deutungshoheit der betroffenen Staaten.

»Der Deutsche Bundestag spricht sich dafür aus, einen europäischen Dialog über die Errichtung eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen zu beginnen.« So lautete der Beschluss vom 4. Juli 2002, mit dem die rot-grüne Regierungsmehrheit das Vorhaben des Bundes der Vertriebenen (BdV) übernahm, die Debatte über die Umsiedlung zu institutionalisieren. Aus den Vorfeldapparaten des Auswärtigen Amts kam damals der Vorschlag, den Plan zur leichteren Durchsetzung mit dem Schlagwort »Europa« zu verbinden.

Der Gedanke, aus dem »Zentrum« ein »Netzwerk gegen Vertreibungen« zu machen, entstammt ebenfalls dem Auswärtigen Amt. Im Herbst des vergangenen Jahres rief die provokative Politik der BdV-Präsidentin Erika Steinbach massive Proteste in Polen hervor. Krisenbewältigung war angesagt, ein klarer Fall für die »Kopernikus-Gruppe«. Diese vertraulich tagende Runde deutscher und polnischer Intellektueller widmet sich seit Jahren »Verständnis- und Verständigungsproblemen im deutsch-polnischen Verhältnis«.

Und tatsächlich fand die vom deutschen Polen-Institut getragene und von der Robert-Bosch-Stiftung finanzierte »Kopernikus-Gruppe« eine Lösung. Ein »Netz verschiedener miteinander verbundener Standorte«, so empfahl sie, solle man statt eines einzigen Zentrums aufbauen. Man solle anknüpfen an die »Danziger Erklärung«, in der die Präsidenten Deutschlands und Polens am 29. Oktober dazu aufriefen, »alle Fälle von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung neu zu bewerten«. Und vor allem, so riet die Vorfeldorganisation des Auswärtigen Amts den Berliner Verantwortlichen: Man solle nicht zu lange warten, eine »rasche Initiative« verspreche Erfolg.

Prompt nahm sich Rot-Grün der Sache an. Die Friedrich-Ebert-Stiftung initiierte im März eine »Bonner Erklärung«, mit der das »Europäische Netzwerk: Zwangsmigrationen und Vertreibungen« ins Leben gerufen wurde. Es folgte das Treffen in Warschau, »sehr plötzlich«, wie der Deutschland-Beauftragte im ungarischen Kultusministerium, Peter Siklos, bemerkte. Über die Bedeutung des Treffens sind sich die Beteiligten bislang nicht ganz einig.

Eine »Idee, die der weiteren Bearbeitung bedarf«, sei das Netzwerk, erfährt man in der ungarischen Botschaft in Berlin. Es seien keine Beschlüsse gefasst worden, die die Tschechische Republik zu irgendetwas verpflichteten, bestätigt Sechter. Euphorisch sind nur die Deutschen. »Gemeinsam mit unseren östlichen Nachbarn«, meint Kulturstaatsministerin Weiss, »haben wir heute einen Prozess der Verständigung in Gang gesetzt.« Die taz feiert gar einen »Durchbruch«.

Recht optimistisch gibt man sich allerdings auch im Budapester Kultusministerium. »Sehr vernünftig« sei es, ein »Netzwerk gegen Vertreibungen« aufzubauen, meint Siklos. Würden ungarische »Vertriebenen«-Organisationen an dem Netzwerk teilnehmen? »Vielleicht«, sagt Siklos vorsichtig zur Jungle World und gibt sich bedeckt. Das Thema sei »heikel«.

Kein Wunder. Ähnlich wie Deutschland musste Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg Gebiete abtreten, die ungarische »Volkstums«-Politik gleicht seitdem der deutschen. Nach der deutschen Annexion des »Sudetenlandes« okkupierte Budapest die Südslowakei, die Benes-Dekrete richteten sich deshalb gegen Deutsche und Ungarn. Budapest kämpft offen für die Abschaffung der Dekrete, was großungarischen Ambitionen Tür und Tor öffnen würde. Derlei Ambitionen betreffen neben der Slowakei auch Rumänien und Serbien.

Für Oktober lädt der ungarische Kulturstaatssekretär Lajos Vass zu einer Konferenz nach Budapest ein. Dann sollen Fakten geschaffen werden. Finanzierung, Konzeption, Kuratorium und Sekretariat des »Netzwerks gegen Vertreibungen« stehen auf dem Programm. Auch über die Initiativen und Institutionen, die vernetzt werden sollen, muss entschieden werden. Vertriebenenverbände würden nicht ausgeschlossen, betonte Weiss.

Gegen die Revisionsachse Berlin-Wien-Budapest dürften sich Prag und Bratislava kaum behaupten können, zumal Warschau sich offenbar nötigen lässt, den deutschen Vorstellungen zu entsprechen. Die vermeintlich polnische Initiative für das Treffen in Warschau gehe, erzählt Siklos, hauptsächlich von Weiss und ihrem Ministerialdirektor Knut Nevermann aus. Auch das Personal sucht sich Berlin offenbar selbst aus. Auf deutschen Wunsch, so Siklos, beteiligte sich der ungarische Historiker Krisztian Ungvary, der sich zuletzt als Kritiker der Wehrmachtsausstellung einen Namen gemacht hat. Koordinator des Netzwerks ist bis auf weiteres Karl Schlögel von der Universität in Frankfurt/Oder.

Mit großer Skepsis betrachtet Sechter das Netzwerk, in dem die Umsiedlung der Deutschen genauso thematisiert werden wird wie die Verfolgung von Serben im Kosovo. Grundverschiedene Ereignisse, wie Sechter ins Gedächtnis ruft: »Das einzige, was sie miteinander zu tun haben, sind die Bilder.« Für fatal hält er eine »Ethnisierung des Zweiten Weltkriegs«. Die Umsiedlung der Deutschen war schließlich, das betont der Botschaftsrat, nicht rassistisch motiviert. Sie war eine notwendige »Reaktion auf den Zivilisationsbruch der Deutschen«.