Goalie the Lonely

Der Torwart ist am stärksten von den Veränderungen des Fußballsports betroffen. Ein Literaturbericht von rené martens

Wir können die Regeln nicht ändern, also lasst uns den Ball ändern«, so drückt Bob Wilson die Idee hinter den Veränderungen des Torwartberufs der letzten Jahrzehnte aus. »Die Entwicklung resultiert daraus, dass Fifa und Uefa mehr Tore und mehr Entertaiment wollen.« Wilson war einst Keeper der schottischen Auswahl sowie bei Arsenal London, später Trainer und Fachbuchautor.

1986 wurden rein synthetische Bälle eingeführt, deren Kunststoffbeschichtung es mit sich bringt, erläutert Wilson, dass die Bälle flattern, während die alten Lederkugeln leichter zu berechnen waren. Flanken standen beispielsweise früher lange in der Luft, so dass der Torwart sie runterpflücken konnte.

Seiner Generation, erinnert sich Wilson, sei »fangen, fangen, fangen« eingehämmert worden, und deshalb »haben wir als Kinder das Fausten oft als lächerlich empfunden«. Aber weil der Ball mittlerweile wie ein »Beachball« wirke, »hat der heutige Torwart nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit zu entscheiden, ob er fängt oder abwehrt«.

»Wenn man also irgendeinen Zweifel hat, lässt man lieber abprallen«, ergänzt Wilson in dem englischen Fachblatt FourFourTwo.

Mit welchen einschneidenden Veränderungen die Torhüter in den vergangenen 130 Jahren konfrontiert gewesen sind und inwiefern sich daran auch wichtige Entwicklungen des Spiels im Allgemeinen ablesen lassen, dem geht jetzt ein neues Buch auf den Grund: »Die letzten Männer. Zur Gattungsgeschichte und Seelenkunde der Torhüter« von Christoph Bausenwein (Werkstatt-Verlag, Göttingen 2003).

In den Vorformen des Fußballs war es noch jedem Akteur erlaubt, jederzeit mit der Hand zu spielen und so zu agieren wie ein Torwart heutzutage. Die ersten Regeln fixierte die britische Football Association 1863, und da stand dann geschrieben, dass jeder, der gerade der letzte Mann war, die Funktion des Torwarts erfüllen und den Ball abwehren konnte. Erst 1871 wurde die Spezialposition des Keepers eingeführt, und der Strafraum, der seinen Handspielradius begrenzte, rund 40 Jahre später.

In den ersten Jahrzehnten seiner Evolution war der Torwart das prädestinierte Opfer. Bis 1892 beispielsweise war es erlaubt, den Keeper über die Torlinie zu stoßen – ob er gerade den Ball hatte oder nicht.

Und wer glaubt, erst die 1992 modifizierte Rückpassregel – seitdem ist es dem Torwart nicht mehr erlaubt, ein Zuspiel eines Mitspielers mit der Hand aufzunehmen – habe den letzten Mann dazu gezwungen, seine Fähigkeiten als Feldspieler zu beweisen, der irrt. Schon in den zwanziger Jahren hat es Keeper gegeben, die sich nicht allein als Hüter des Kastens verstanden, sondern als zusätzlicher Abwehrspieler, und das war auch sinnvoll, weil das damalige Spielsystem mit nur zwei Verteidigern sehr offensiv ausgerichtet war.

An der Rückpassregel lässt sich im Übrigen ein Konflikt unter den Torwarthistorikern festmachen: Während Bausenwein sie als Modernisierung befürwortet, die der Entwicklung Rechnung trage, dass »heute sogar der größte Spezialist des Spiels Verantwortung für das Funktionieren des Teamworks übernehmen muss«, sieht Peter Chapman, Sportjournalist, Ex-Torwart und Autor des Buchs »The Goalkeeper’s History of Britain« (Trafalgar Square, London 2000), die Vorschrift als Ausdruck einer unheilvollen historischen Kontinuität. Der Fußball an sich, spitzt er zu, führe einen Feldzug gegen den Torwart. Seit den Tagen, »als ein Stürmer den Torwart inklusive Ball über die Torlinie drücken und so einen Treffer erzielen konnte« sei das so.

Und Francis Hodgson, Autor eines anderen Standardwerks (»Only the Goalkeeper To Beat«, Picador, London 1999), findet es »schockierend«, »willkürlich« und »völlig absurd«, dass »ein Spieler, der dafür bestimmt ist, zur Verteidigung seines Tors seine Hände zu benutzen, dies in einem Fall plötzlich nicht mehr darf«. Wenn Bedarf nach »kosmetischen Veränderungen« des Spiels bestehe, dürfe man es sich nicht so einfach machen und den Goalie als »Zielscheibe« auswählen. »Fußball mit zehn Mann und ohne Torwart« – dieses »Schreckgespenst« sieht Hodgson schon »im Nebel« lauern.

In der Opferrolle sehen sich auch oft die Torhüter selbst, etwa wenn die Öffentlichkeit über sie herfällt, weil sie einen Kullerball durchgelassen haben. »Ein Fehlschuss landet in der Regel immer dann als Kullerchen im Netz, wenn du dich darauf vorbereitet hast, eine Bombe zu entschärfen«, sagt die nordirische Torwartikone Pat Jennings.

Kein Wunder, dass Torhüter mitunter einen psychischen Ausnahmezustand offenbaren, indem sie vermeintlich zu hart eingestiegenen Gegenspielern oder schlampig verteidigenden Teamkameraden an den Kragen gehen. Aus gelegentlichen Ausrastern den Schluss zu ziehen, Torhüter seien nun mal grundsätzlich ein bisschen meschugge, ist zwar weiterhin beliebt, aber wohl eher ein Ausdruck von Denkfaulheit.

Tatsächlich verrückt ist nur einer: der Engländer David Icke, ein ehemaliger Erstligatorwart, der seine Karriere verletzungsbedingt früh beenden musste. In den achtziger Jahren gehörte er zu den Protagonisten der britischen Grünen, aber seit den Neunzigern tritt er als Rechtsradikaler und Esoteriker hervor, vor allem mit seinem Verlag »Bridges of love«, in dem er Machwerke wie »Alice in Wonderland and the World Trade Center Disaster« veröffentlicht. Icke, der gelegentlich auch Sportkolumnen schreibt, hält sich darüber hinaus für die Reinkarnation von Jesus Christus und Hilary Clinton für die menschliche Verkörperung eines Reptilienwesens aus dem All. Ob Icke so geworden ist, weil er irgendwann einmal allzu heftig mit einem Gegenspieler oder einem Torpfosten zusammenstieß, ist indes nicht überliefert.