Rückwärts in die Klasse

Im europäischen Vergleich belegt der schwedische Wohlfahrtsstaat noch einen Spitzenplatz. Doch die soziale Ungleichheit nimmt rapide zu. von bernd parusel, stockholm

Auf der Internetseite des schwedischen Statistischen Zentralbüros tickt eine Uhr. Sie zeigt nicht die Zeit an, sondern informiert über die aktuelle Einwohnerzahl des nordischen Landes. Ungefähr jede Viertelstunde wächst die Bevölkerung um eine Person, so hat man errechnet, und irgendwann im Laufe der kommenden Wochen oder Monate soll eine markante Grenze überschritten werden. Neun Millionen Einwohner zählt Schweden dann.

Gefeiert werden soll das Ereignis nicht, meint die für die Prognose zuständige Statistikerin Helén Marklund. Viel aktueller als nüchterne Bevölkerungszahlen ist gegenwärtig die Frage, wie sich die Lebensumstände der bald neun Millionen Schweden entwickeln werden. Schweden belegt, das weisen aktuelle Studien aus, immer noch einen Spitzenplatz unter den Ländern der EU. Zusammen mit den anderen nordischen Staaten hat man die höchste Beschäftigungsquote in der EU, eine vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit unter sechs Prozent sowie ein noch relativ großzügiges Wohlfahrtssystem. Doch das positive Bild stimmt allenfalls, wenn man das skandinavische Land von außen betrachtet. Die Selbsteinschätzung der Schweden ist eine ganz andere.

Anlässich des 1. Mai veröffentlichte die Zeitung Svenska Dagbladet eine Artikelserie zum Thema »die geteilte Gesellschaft«. Schweden habe lange danach gestrebt, die Gegensätze zwischen »denen da oben« und »denen da unten« abzubauen, heißt es. Heute gehe die Entwicklung jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung. Vom Ende der sechziger bis zum Anfang der achtziger Jahre waren die Einkünfte der Arbeiter, der Angestellten und der Selbstständigen auf dem Weg, sich anzugleichen. In dem Jahr mit den geringsten Klassengegensätzen, 1980, verdiente selbst ein Mitglied der Wirtschaftselite nicht wie heute das 32fache, sondern im Durchschnitt »nur« das Zehnfache eines Industriearbeiters. »Gleiches Recht, gleicher Respekt und gleiche Möglichkeiten für alle und auf allen Gebieten«, lautete das Credo des damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Olof Palme. Im Jahr 1986 wurde er unter ungeklärten Umständen ermordet; wie sich später herausstellte, war damit auch die Politik der Angleichung am Ende. Als Schweden in der ersten Hälfte der neunziger Jahre von einer Wirtschaftskrise erschüttert wurde, mussten alle, die gesellschaftliche Gleichheit angestrebt hatten, einsehen, dass das Land in voller Fahrt auf dem Rückweg zu schon überkommen geglaubten Gegensätzen war. 2001 war die Gesellschaft wieder so geteilt, wie vor der Ära Palme.

Unter dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten Göran Persson, dessen sozialdemokratische Minderheitsregierung im Stockholmer Reichstag von der Linkspartei und den Grünen toleriert wird, vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr. Und die Klassengesellschaft manifestiert sich, wie ein am Donnerstag der vergangenen Woche vom Gewerkschaftsverband LO vorgestellter Bericht verdeutlicht, nicht nur im Verhältnis zwischen Arbeitern und Angestellten, sondern auch zwischen den Geschlechtern. Ungefähr 1,2 Millionen Schweden, etwa ein Drittel aller abhängig Beschäftigten, verdienen brutto weniger als 2 000 Euro monatlich, obwohl Schweden innerhalb der EU die höchste Steuerquote aufweist. Mit etwa 65 Prozent sind die meisten der Geringverdiener Frauen. Am anderen Ende der Skala rangieren diejenigen, die mehr als 3 300 Euro verdienen. Diese Schicht umfaßt elf Prozent der Arbeitnehmer, setzt sich zum Großteil aus Angestellten zusammen – und vor allem aus Männern.

Den meisten Schweden ist das durchaus bewusst. »Neun von zehn sind heute der Meinung, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, und eine Mehrheit kann auch angeben, welcher Klasse sie selbst angehört«, erläutert der Soziologe Göran Cigéhn. Ein Großteil steht diesen Verhältnissen zudem kritisch gegenüber und würde es begrüßen, wenn die Löhne der Arbeiter und der Angestellten, der Männer und der Frauen durch eine entsprechende Tarif- und Steuerpolitik einander angenähert würden.

Am meisten stören die Bürger jedoch Bereicherungs- und Korruptionsskandale, etwa im staatlichen Alkoholkonzern Systembolaget oder beim Versicherungsriesen Skandia. Mehrere Skandia-Manager versorgten sich mit Bonuszahlungen in astronomischer Höhe und Luxuswohnungen in Stockholm, während der Konzern gleichzeitig innerhalb nur eines Jahres 700 Angestellte entließ. Die Gewerkschaften sprechen in Anspielung auf den Sozialstaatsgedanken früherer Jahre bereits verächtlich von einer »Volksheimelite«, die immer besser verdient, während sich die Verhältnisse für Geringverdiener mit befristeten Anstellungen – die immer mehr werden – zusehens verschlechtern.

Wer jedoch überhaupt einen Job hat, gehört noch zu den Gewinnern. Sozialwissenschaftler prognostizieren die Entstehung einer neuen »Unterklasse«, die sich vor allem aus Jugendlichen mit einem schlechten oder gar keinem Schulabschluss, Alleinerziehenden sowie Einwanderern und Flüchtlingen zusammensetzt. Diese Gruppen sind die eindeutigen Hauptverlierer der vergangenen Jahre.

»Der Arbeitsmarkt ist nach der Hautfarbe sortiert«, erklärt Andreas Carlgren, Direktor von Integrationsverket, der Behörde, die für die Integration zuständig ist. »Schweden ist heute ein Land mit struktureller Diskriminierung«, und eine »ethnische Klassengesellschaft« werde nach und nach zementiert. So ist die Arbeitslosigkeit unter Zuwanderern aus Nicht-EU-Ländern bereits jetzt viermal höher als bei ansässigen EU-Bürgern, Migranten werden bei Entlassungen meist als erste vor die Tür gesetzt und im Ausland erworbene Berufsausbildungen werden selbst in Branchen, in denen es an Arbeitskräften mangelt, so im Schul- oder Gesundheitswesen, oft nicht anerkannt. Am schlechtesten ergehe es, so Carlgren, Einwanderern aus Afrika. Auch nach vielen Jahren in Schweden hat nicht einmal jeder fünfte afrikanische Migrant eine Stelle, die seiner Qualifikation entspricht.

Auch die Zahl arbeitsloser 20- bis 24jähriger wird immer größer. Sie ist im vergangenen Jahr förmlich explodiert und liegt jetzt bei 13 Prozent. Angesichts des Gedränges auf dem Arbeitsmarkt bekommen viele keinen Fuß in die Erwerbstätigkeit. Und wer einmal in die Arbeitslosigkeit hineinrutscht, bleibt dort häufig auch viele Jahre. 12 000 Schweden unter 25 Jahren zählen bereits zu den Langzeitarbeitslosen. Hinzu kommt, dass die vergangenen Regierungen immer weniger Geld für Praktikums- und Ausbildungsprogramme zur Verfügung gestellt haben. Hier hat Persson jetzt Abhilfe versprochen. »Unser Ziel ist die Vollbeschäftigung«, rief der Ministerpräsident auf dem sozialdemokratischen Parteitag Mitte April aus, fügte jedoch gleich hinzu, dass es einige Zeit dauern dürfte, bis die Arbeitslosigkeit wieder sinke.

Dass die friedliche Welt des schwedischen Volksheims wieder hergestellt werden könnte oder dass sich die Gesellschaft gar auf den Weg in Richtung Klassenlosigkeit machen werde, damit rechnet indes kaum jemand mehr.