Die mit dem Wolf tanzt

Der erste Platz des ukrainischen Ensembles rund um die Sängerin Ruslana beim Song Contest in Istanbul zeigt, dass die Europäer Ethno-Pop vom Rande des Kontinents besonders schätzen. von martin schwarz

Wenn im nächsten Jahr in der ukrainischen Hauptstadt Kiew der Song Contest ausgetragen wird, stehen die Chancen nicht schlecht, dass Ruslana, die Gewinnerin des diesjährigen Stimmbandmassakers in Istanbul, nicht mehr dabei ist. Denn in einer Pressekonferenz vor ihrem Sieg gab die erfolgreichste Sängerin ihres Heimatlandes Ukraine bekannt, dass sie plant, einen ihrer nächsten Auftritte mit einem leibhaftigen Wolf auf der Bühne zu absolvieren. Ein riskantes Unterfangen, denn vielleicht bemerkt ja der lebendige Wolf, dass Ruslanas Band offensichtlich jahrelang durch ukrainische Wälder gestreift ist, um sich dessen Artgenossen zu erjagen und deren Felle in Istanbul um die Hüften baumeln zu lassen.

So schwachsinnig die Performance der östlichen Jägercombo auch war, so sehr scheint die Ethno-Masche den Europäern gefallen zu haben: 280 Punkte gab es für die Karpaten-Variante der Gruppe Dschingis Khan, die im Jahre 1979 den zweiten Platz für Deutschland ertanzt hatte. Offensichtlich hatten die Ukrainer – sie mussten sich erst im Halbfinale am vergangenen Mittwoch die Chance auf einen Auftritt am Samstag erstreiten – vom Sieg Sertab Ereners im vergangenen Jahr gelernt: Was ankommt, sind Songs, die so klingen, wie sich der ordinäre Tui-Tourist das Heimatland des Sängers vorstellt.

Sertab Erener hatte mit ihrem Song »All That I Want« ein Bild der Türkei zwischen Bauchtanz, Harem und postsexueller Erschöpfung gezeigt. Ruslana gab mit dem Siegertitel »Wild Dance« die Ukraine als ein Land wieder, in dem Menschen seltsame Dinge tragen, ziemlich unkoordiniert herumtanzen, insgesamt aber bei aller Armut glücklich sind.

Irgendwie auch authentisch war der Beitrag »Lane moj« aus Serbien-Montenegro, gesungen von Îeljko Joksimoviç. Der Sänger klang traurig, depressiv und wurde begleitet von einer ebenso traurig dreinschauenden Geigerin. Zwar wird ein ewiges Rätsel bleiben, worum es bei »Lane moj« eigentlich geht, aber das Lied strahlt immerhin die ganze Wehmut eines Landes aus, das eigentlich keines mehr ist und zum ersten Mal seit zwölf Jahren wieder beim Song Contest antreten durfte. Genauso stellt man sich eben Serbien-Montenegro vor. Höchst interessant dabei war übrigens das Wahlverhalten der Balkanstaaten: Sie stimmten sich gegenseitig auf Top-Plätze, als hätte es vor wenigen Jahren keine Kriege gegeben, in denen sich die verschiedenen Staaten gegenseitig bekämpft haben. Da steht zu befürchten, dass sich auch in den nächsten Jahren eine Balkan-Bürgerkriegsallianz herausbildet – ganz nach dem mittlerweile etwas kraftlos gewordenen skandinavischen Song-Contest-Kuscheln, bei dem sich die skandinavischen Länder gegenseitig ihre Stimmen geben.

Für Deutschland stellt sich angesichts der Ethno-Flut langsam die Frage, ob man weiterhin auf möglichst klassische Popmusik setzen soll – egal ob sie von musikalischen Blindgängern wie Corinna May oder Pumuckl-Imitaten wie Lou vorgetragen werden. Selbst die geballte Marketing-Power, die Stefan Raab seinem Schützling Maximilian Nepomuk Mutzke angedeihen ließ, hat letztendlich nichts genützt: Platz acht sprang für die singende Atom-Augenbraue heraus. Besonders enttäuschend und wahrscheinlich ein schwerer Rückschlag für die EU-Beitrittsbestrebungen der Türkei war, dass die Türken Max bloß fünf Punkte zugestehen wollten. Dabei hatte sich Raab derart bemüht: Seit einer Woche sendete er sein »TV Total« aus Istanbul, tourte mit Max durch türkische Talkshows, lud in seine eigene Show Dutzende prominente Türken ein und ließ gar einen türkischen Text für »Can’t Wait Until Tonight« anfertigen.

Zweifellos: Max ist ein sympathischer kleiner Klemmi aus Waldshut mit einer beeindruckenden Stimme, ähnlich der Joe Cockers vor dessen Whiskey-Diät. Vielleicht aber hat Stefan Raab bei seiner Planung übersehen, dass die Zeit der in echsenartiger Bewegungslosigkeit vorgetragenen Balladen beim Song Contest vorbei ist, seit Corinna May sich bei ihrem Auftritt im Jahr 2002 aus den Herzen der Europäer stampfte. Was heute offenbar zählt, ist eine möglichst aufwändige Bühnenshow, die einen möglichst bekloppten Song flankiert. Vielleicht hätte Max die Angelegenheit noch retten können, wenn er strategisch klug vom Barhocker gefallen wäre.

Aus der abermaligen Niederlage für Deutschland bei einem professionell gehypten Song kann nur eines folgen: Im nächsten Jahr muss Heino mit einer Schwarzwaldmelodie antreten, umrahmt von jungen Tänzerinnen. Max sieht das naturgemäß anders. Ein bisschen sauer über seinen achten Platz, schrieb er die Niederlage der »Politik« und »Nachbarschaftsfreundschaften« zu, bei denen Deutschland traditionell das Nachsehen hat. Eine großartige Analyse für einen 22jährigen Abiturienten.

Um zu gerechteren Entscheidungen zu kommen, müsste der Song Contest abermals reformiert werden. Das System mit dem Halbfinale nämlich krankt daran, dass beinahe alle Staaten, die über das Halbfinale qualifiziert wurden, auch am Samstag auf die oberen Plätze kamen. Die Ukraine gehört da ebenso dazu wie Griechenland, Serbien-Montenegro, Bosnien-Herzegowina oder Albanien. Der Vorteil, sich so in die große Show zu mogeln, liegt auf der Hand: Selbst Songs, die ohne eine großartige Melodie auskommen, setzen sich im Halbfinale in den Gehörgängen der Zuseher fest und werden dann auf der großen Gesangsparty wenige Tage später wieder erkannt. Da erscheint dann vieles schöner, als es tatsächlich ist.

Im Mai 2005 also wird das vierstündige Spektakel aus Kiew übertragen, was noch spannender als der Contest in Istanbul zu werden verspricht. Auf einer Pressekonferenz kurz nach dem Sieg von Ruslana wurden schon die ersten Zweifel laut, ob die bankrotte Ex-Sowjetrepublik es überhaupt schaffen wird, eine Veranstaltung wie den Song Contest zu managen. Schließlich kennt man die Ukraine lediglich von einer anderen Großveranstaltung, die allerdings auch schon 18 Jahre zurück liegt und ebenfalls schlecht organisiert worden war: das Reaktorunglück von Tschernobyl. Selbst nach ihrem Sieg musste sich Ruslana noch dafür rechtfertigen. Ein Reporter fragte sie nach ihren Gedanken zu Tschernobyl, Ruslana aber wollte »die Vergangenheit vergessen« und der Welt die Schönheit der Ukraine zeigen. Das kann sie im nächsten Mai tun: Tschernobyl, sicherlich eine der Schönheiten der Ukraine, liegt nur rund 200 Kilometer von Kiew entfernt.