Lieber mehr abschaffen

Es gibt eine neue Bewegung: die linke Aneignungsbewegung. »Alles für alle« ist viel verlangt und doch zu wenig. Über den Rest entscheidet die Praxis. von winfried rust

Das können Sie nicht machen, ich darf Sie hier nicht hereinlassen«, redet der Bademeister auf ein buntes Grüppchen ein. »Alles für alle – und zwar umsonst!« schallt es zurück. Ein paar Teenies blicken irritiert, ein altlinker Badegast schaut entschlossen weg.

Ähnliche Szenen spielten sich bereits in einigen deutschen Städten in Schwimmbädern, Straßenbahnen oder Kinos ab. »Wir wollen das schöne Leben, und wir wollen es jetzt!«, ist das Anliegen der Umsonst-Kampagnen oder, etwas sachlicher ausgedrückt, den »gesellschaftlichen Reichtum Schritt für Schritt zurück(zu)gewinnen, wo die aktuellen Einsparungen die Lebensqualität und Existenz vieler Leute bedrohen«. Zu ihrer Strategie gehört, gegenhegemoniale Aneignungsweisen aufzuspüren und zu überlegen, wie sie kollektivierbar und politisierbar sind.

Denn unter der Woche stellt sich der Sozialstaat im »Kampf um Zugehörigkeit«, in »umkämpften Räumen« und »Verteilungskämpfen« dar. Die linke Forderung nach Aneignung trifft das aktuelle Problem, dass trotz steigender Produktivität eine steigende Anzahl von Menschen vom gesellschaftlichen Reichtum ausgegrenzt wird, indem die Beteiligung an diesem Reichtum an einen Arbeitsplatz geknüpft ist. Was liegt da näher als Aneignung? Die allgegenwärtige Konkurrenz aller gegen alle stellt sich heute in Strukturen dar, in denen die Verantwortung für die Misere nicht lokalisierbar ist. Der Bademeister zeigt auf die Kommune, die wiederum auf den Staat, der auf die fehlenden Steuereinnahmen. Die Betriebe ächzen unter dem Konkurrenzdruck, der an die Belegschaft weitergegeben wird. Wenn niemand für die Misere verantwortlich ist, scheint eine gewisse Willkür unausweichlich.

Ist der gesellschaftliche Druck nur hoch genug, stellt sich möglicherweise heraus, dass in der Stadtbibliothek doch keine Gebühren erhoben werden müssen. Und mehr noch: Erweist sich ein scheinbarer Sachzwang als falsch, verliert das Argument auch an anderen Stellen an Respekt. In einer obrigkeitsstaatlichen Gesellschaft wie der deutschen sollte die Überwindung von Denkblockaden, zumal wenn sie fortschrittlich ist, hoch geachtet werden.

Genau das macht die Bundeskoordination Internationalismus (Buko). Sie veranstaltet ihren diesjährigen Kongress schwerpunktmäßig zum Thema Aneignung und bezieht sich auf kapitalismuskritische Bewegungen in aller Welt, die sich zum Beispiel Land oder Fabriken aneignen. Ausgehend von »einem Aufbegehren gegen die neoliberale Politik« seit dem Aufstand in Chiapas und globalisierungskritischen Protesten soll der Begriff Aneignung die »vielfältigen aktuelle Praxen in den Blick bekommen«, in denen sich Menschen »nehmen, was sie für ein schönes Leben als notwendig erachten oder auch nur zur Lebenssicherung brauchen«.

Ein Buko-Arbeitskreis und die Zeitschrift Arranca! fassen den Begriff weiter, über die Verteilungssphäre hinaus. Aneignung bezeichne »Handlungen von Menschen, die ihre Umgebung bewusst gestalten und über unpraktische Besitzverhältnisse stolpern«. Moe Hirlmeier eignet sich hier den Begriff mit Marx, Brecht und den Situationisten an: mit Marx über die kommunistische »Aneignung des menschlichen Wesens«, mit Brecht lustvoll in soziale Kämpfe intervenierend, von unten und ohne fertiges Konzept, und mit den Situationisten auf Augenhöhe mit dem modernen Kapitalismus. Die Situationisten eigneten sich Momente des modernen Kapitalismus an, um sie »zweckentfremdet und verdreht mit unerwarteten Botschaften munitioniert wieder zurückzuspucken«.

Der Begriff Aneignung hat Defizite. Er ist beliebig, er ist auf die Verteilungsfrage fixiert, und er blendet aus, was abzuschaffen ist. Aneignung produziert Eigner und Eigentümer. Die dem Begriff innewohnende Orientierung auf die Verteilungsfrage kann die Initiativen schnell auf Sozialpolitik reduzieren. Qualitative Kriterien sind rar. Besitz ist kein sinnvoller Bezugspunkt für linke Bewegungen, allenfalls »funktionales Haben«. Mit diesem Begriff grenzte Erich Fromm Existenzsicherung von der »Existenzweise des Habens« ab. Aneignung ignoriert, dass Ware, Arbeit, Nation, Identitätsangebote weniger zur Aneignung als zur Abschaffung taugen.

Ist der Einzelne nicht als egoistisches Wirtschaftssubjekt ins System integriert? Da kann er sich noch so viel aneignen. Auch wenn alle umsonst ins Schwimmbad dürften, blieben sie dort in ihre bornierten Identitäten gespalten. Das Kapital ist ein soziales Verhältnis, Macht ist in allen Dingen: Die Behauptung, allein durch einen Akt der Aneignung die Dinge zu ändern – sie wechseln oft nur ihren Eigner –, wäre kontraproduktiv. Es kommt darauf an, in welchem Bewusstsein die Aneignung stattfindet, in welchem Umfang, und ob die zwangsläufigen blinden Flecken erkannt und mit anderen Strategien bearbeitet werden. Oder ob wenigstens erkannt und kommuniziert wird, dass man nur in einem Teilbereich agiert.

Schwimmbad umsonst scheint zwar schwer vereinbar mit der kapitalistischen Vergesellschaftung, aber letztlich reproduziert sie ihre Probleme immer wieder neu. Die Idee, im Kapitalismus soziale Errungenschaften durchzusetzen beziehungsweise diese für sich anzugehen, hat zwar zu sozialpolitischen Verbesserungen geführt. Aber das hat seine Grenzen. Die Sozialreformer errichten ständig Dämme gegen die kapitalistische Vergesellschaftung. Sobald einer fertig ist, wird ein anderer wieder fortgeschwemmt. Das 125jährige Jubiläum der deutschen Sozialpolitik feiern die rot-grünen Sozialreformer mit der Abschaffung des kostenlosen Arztbesuchs, der Absenkung der Arbeitslosenhilfe bis an die Armutsgrenze und schikanösen neuen Zumutbarkeitskriterien bei Jobangeboten. Was nützt es da, wenn im Umsonstladen etwas Wohlstandsmüll zirkuliert? Wenn damit die Illusion genährt wird, die Misere unterlaufen zu können, sogar noch weniger als nichts.

Die Umsonstidee kann als typisch immanente Armutsbewegung im bürgerlichen Sozialstaat aufflackern und erlöschen. Aber auch das gründlichste Einprügeln auf Reformpolitik bringt keine Begeisterung für etwas Besseres hervor. Entscheidend ist, was sich wirklich aus dem Ansatz der Umsonst-Kampagne entwickelt. Sinn kann der Begriff Aneignung haben, wenn er soziale Praxen abbildet, die sich eine bessere Weltgesellschaft »aneignen« wollen.

Auch muss er auf die neuen sozialen Verhältnisse und auf die Kämpfe der nachfordistischen Zeit anwendbar sein. Ein »neues Proletariat« in Hardt/Negris »Empire« strebt beispielsweise aus der wachsenden Bedeutung von Selbstverantwortung und Wissen in der New Economy in die unvorhergesehene Richtung, sich die Ökonomie anzueignen, deren Substanz statt der Maschinen sie, die Wissensarbeiter, geworden sind. Diese Aneignungsbewegung von innen verdient insofern Interesse, als die Neuorientierung der postfordistischen Epoche auch neue Brüche offenbaren kann.

Hardt/Negri wie auch André Gorz in »L’immateriel. Connaissance, valeur et capital« erkennen diese Transformation der Produktionsbedingungen an und versuchen nicht, wie die keynesianische oder globalisierungskritische Kritik, Kategorien einer anderen Zeit an die Krise anzulegen und den Wandel pauschal abzuspalten und zu dämonisieren. Von hier aus stellt sich die Frage, ob die Verhältnisse nicht auf ganz anderen als den traditionellen Terrains zum Tanzen gebracht werden können. Vielleicht enthalten die linken Vorstellungen von Aneignung das Potenzial und die poetische Kraft für kommende soziale Bewegungen, die die Misere der Arbeitsgesellschaft beenden werden? Wenn das der Bademeister wüsste!