Amnestie durch Aussitzen

Vor neun Monaten legte die peruanische Wahrheitskommission ihren Abschlussbericht über den Bürgerkrieg vor. Doch die Regierung ignoriert weiterhin die Verbrechen der Armee. von rolf schröder

Ein ganzes Dorf will vergessen. Niemand war bereit zu reden, als vor einem Jahr Vertreter der peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission in Milagro auftauchten, einer kleinen Gemeinde von Asháninka-Indígenas im peruanischen Amazonas-Tiefland. Der Bauer Germán Díaz erinnert sich trotzdem: »Sie wollten Zeugenaussagen von Opfern des Bürgerkriegs aufnehmen. Während dieses Krieges hatten wir so viel Angst, dass wir uns drei Monate lang in den Bäumen versteckten und nur Maniokwurzeln aßen.«

Das war vor 14 Jahren, als der Leuchtende Pfad die Asháninka-Gemeinde für seinen »Volkskrieg« rekrutieren wollte, den die maoistische Guerrilla bereits seit 1980 führte. Doch fast alle DorfbewohnerInnen weigerten sich. »Daraufhin bedrohten sie uns und töteten unser Vieh«, erzählt Germán. »Anfangs wehrten wir uns mit Macheten und Knüppeln, mit Pfeil und Bogen. Nur weil wir uns so lange versteckten, hatten wir keine Toten.«

Fast 4 000 Asháninka, acht Prozent ihrer Gesamtbevölkerung, starben im peruanischen Bürgerkrieg (1980 bis 1992). Sie litten besonders unter den Gewalttaten des Leuchtenden Pfads, der alle PeruanerInnen als Gegner betrachtete, die ihm Widerstand entgegensetzten. Dennoch will Germán mit der Wahrheitskommission nichts zu tun haben: »Warum fragen sie uns nach der Vergangenheit? Wir wollen sie vergessen! In unserem Dorf leben Leute, die damals auf der Seite des Leuchtenden Pfads gegen ihre eigene Gemeinde kämpften. Heute bereuen sie ihre Taten. Wir haben ihnen verziehen und sie wieder aufgenommen, so schmerzhaft das war. Soll ich sie jetzt bei der Wahrheitskommission denunzieren?«

Die Lehrerin Doris Calixto aus Cerro de Pasco im peruanischen Hochland will weder verzeihen noch vergessen. Ihr Mann wurde von der Armee verschleppt und ermordet, sie selbst mehrfach gefoltert. Heute ist sie Vorsitzende einer der insgesamt 110 Vereinigungen von Angehörigen der Opfer, die sich vor allem für staatliche Reparationen und die strafrechtliche Verfolgung der Kriegsverbrecher stark machen. »Für uns war die Arbeit der Wahrheitskommission sehr fruchtbar«, urteilt Doris, »denn das Ausmaß der Gewalt in diesem Krieg war nicht bekannt. Jetzt können wir auf dieser Grundlage Gerechtigkeit fordern.«

Als die Wahrheitskommission im August 2003 ihren Abschlussbericht vorlegte, hatte sie 70 000 Bürgerkriegstote gezählt, mehr Opfer, als es seit der peruanischen Unabhängigkeit in allen in- und externen Konflikten gab. Etwa 45 000 Tote gingen dem Bericht zufolge auf das Konto des Leuchtenden Pfads. Die Streitkräfte, denen die Kommission systematische Menschenrechtsverletzungen nachwies, massakrierten demnach mehr als 15 000 ZivilistInnen, weil sie große Teile der verarmten Landbevölkerung für subversiv hielten.

Die Wahrheitskommission übergab der Staatsanwaltschaft eine Fülle von Beweismaterial gegen Offiziere und bat den Präsidenten, sich im Namen des Staates bei den Opfern zu entschuldigen. Zudem sprach sie sich für kollektive und individuelle Reparationen sowie für eine Militärreform aus. Zahlreiche PolitikerInnen rechter Parteien reagierten ablehnend bis diffamierend auf den Bericht und sahen das Ansehen der Armee verunglimpft. Sie finden es offenbar in Ordnung, dass Massenmörder in Uniform weiter ihren Dienst versehen oder unbehelligt im Ruhestand leben, während tausende AnhängerInnen des Leuchtenden Pfads in den Gefängnissen verschwunden sind – zum Teil ohne Beweise und mit jahrzehntelangen Freiheitsstrafen.

Die zwischen die Fronten geratene Regierung wartet ab. Seit neun Monaten. Präsident Toledo findet allerdings, er habe sich bereits bei den Opfern entschuldigt. Nur bat er nicht für die systematischen Menschenrechtsverletzungen der Armee, sondern für »Exzesse« um Verzeihung. Damit rief er bei den Angehörigen der Opfer noch mehr Empörung hervor. Toledo behauptet auch, die Zahlung von Reparationen eingeleitet zu haben. Aber seine Regierung versucht nur, ohnehin geplante Infrastrukturmaßnahmen für ärmere Regionen als Reparationen zu verkaufen.

Der Anthropologe Carlos Iván Degregori, ein ehemaliges Mitglied der Wahrheitskommission, stellt im Gespräch mit der Jungle World fest: »Der Regierung fehlt der Wille. Sie ist nicht einmal zu symbolischen Reparationen bereit, die nichts kosten. Sie könnte Straßen nach ermordeten Personen benennen, Erinnerungsstätten einrichten oder einen nationalen Gedenktag ausrufen. Nichts dergleichen geschieht!« Dabei wäre es vermutlich nicht einmal schwer, an internationale Gelder zu gelangen. »Die Regierung könnte sagen: Wir legen 50 Millionen Dollar auf den Tisch«, schlägt Degregori vor. »Mit diesem Geld würde sie bei internationalen Institutionen mit Sicherheit größere Beträge loseisen. Sogar die Weltbank oder die Interamerikanische Entwicklungsbank haben signalisiert, dass sie etwas zuschießen würden.«

Die Armee erhielt von der Regierung den Auftrag, sich selbst zu reformieren. Doch sie will ihre Soldaten auch weiterhin nur vor Militärtribunale stellen, egal welcher Verbrechen sie sich schuldig gemacht haben. Und die Staatsanwaltschaft hält sich vornehm zurück. Mit den insgesamt 70 Fällen von Kriegsverbrechen, die ihr von der Wahrheitskommission übergeben wurden, beschäftigte sich die zuständige Behörde gar nicht erst. Stattdessen schickte sie die Akten an ihre Provinzfilialen im Hochland weiter, wo sie nun verstauben. Ganze zwei Fälle wurden verfolgt.

Beispielhaft für die Haltung der Justiz ist der Fall des ehemaligen Leutnants Telmo Hurtado, der 1985 im Andendorf Accomarca Frauen vergewaltigen und mehr als 69 Menschen ermorden ließ. Das Beweismaterial gegen ihn war so eindeutig, dass kurz nach der Tat sogar ein Militärgericht aktiv wurde. Hurtado verbrachte zwei Jahre in einem Armeegefängnis mit Pool und Tennisplatz. Nach Ablauf seiner Strafe wurde er zum Hauptmann befördert. Die Staatsanwaltschaft argumentiert nun, er sei bereits verurteilt und könne deshalb nicht erneut vor Gericht gestellt werden.

»Peru liegt irgendwo zwischen Guatemala und Argentinien«, sagt Carlos Iván Degregori. Aber das stimmt nur in geografischer Hinsicht. Denn der ehemalige Kommissar weiß, dass sich in Argentinien bei der Aufarbeitung der Verbrechen während der Militärdiktatur derzeit etwas bewegt. In Peru dagegen laufen die Uhren nicht anders als in Guatemala, wo die Arbeit einer Wahrheitskommission nach dem dortigen Bürgerkrieg kaum Konsequenzen hatte. Degregori hat sich entschlossen, optimistisch in die Zukunft zu schauen: »Wir haben hier zwar keine Mütter von der Plaza de Mayo, aber in den Provinzen, wo der Krieg stattfand, organisieren sich die Menschen. Vielleicht braucht die Aufarbeitung noch ein wenig Zeit.«