Aufstand in Beirut

Die Proteste gegen die Sozialpolitik der libanesischen Regierung endeten mit Todesschüssen auf Demonstranten. Nun versucht die Hizbollah zu vermitteln. von alfred hackensberger, beirut

Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit. In den letzen Monaten gingen Armee und Polizei in Beirut regelmäßig gegen Teilnehmer von Demonstrationen mit Gewalt vor. Der durchwegs friedliche Charakter der Kundgebungen spielte dabei keinerlei Rolle. Wer im Libanon, aus welchen Gründen auch immer, sich öffentlich gegen die Regierungspolitik stellt, gilt als Unruhestifter und wird entsprechend rigoros behandelt.

Am 27. Mai wurde mit Maschinengewehren in die Menge geschossen, die gegen die Benzinpreiserhöhung und die Steuerpolitik der Regierung protestierte. In Hay al-Sellom, einem verarmten Stadtteil von Beirut, waren rund 500 Menschen dem Aufruf des Gewerkschaftsverbands General Labor Confederation (GLC) gefolgt, der zu landesweiten Protesten aufgerufen hatte.

Nach offiziellen Angaben wurde geschossen, nachdem Demonstranten, angeblich Mitglieder der Kommunistischen Partei, Soldaten mit Steinen beworfen und versucht hatten, einen Lastwagen der Armee zu übernehmen. Fünf Menschen wurden getötet, über 30 zum Teil schwer verletzt. Ein Angestellter des Arbeitsministeriums starb, als die erzürnte Menge das Gebäude anzündete.

An den Beerdigungen der getöteten Demonstranten nahmen am folgenden Tag Tausende von Menschen teil. Die Bevölkerung riegelte kurzerhand ihren Stadtteil mit Barrikaden ab. Weitere Auseinandersetzungen mit Armee und Polizei gab es jedoch nicht. Mehrere Parlamentarier der Hizbollah vermittelten zwischen Demonstranten und Staatsorganen und erreichten einen »Waffenstillstand«.

Hay al-Sellom ist einer der Stadtteile im Süden Beiruts, der unter der Kontrolle der Hizbollah steht. In einer Pressekonferenz sagte Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der »Partei Gottes«, dass seine »Parteimitglieder nur die wichtigsten Widerstandsstellungen und die Wohnungen der Führungsspitze vor Angriffen der Feinde und Kollaborateure schützen«. Eine leichte Untertreibung, denn Armee und Polizei haben in den Hochburgen der Hizbollah normalerweise nichts zu suchen.

Für die Hizbollah sind die gewaltsamen Proteste in doppelter Hinsicht unangenehm. Zum einen wurde die Integrität »ihres« Territoriums verletzt, zum anderen will die Partei nichts mit gewalttätigen sozialen Protesten zu tun haben, an denen obendrein noch ihre Mitglieder teilnehmen. Ihre Ideologie stellt sich auf die Seite der »Unterdrückten«, lehnt den Klassenkampf im marxistischen Sinn jedoch ab, wenn daraus Chaos und Unordnung entsteht.

Regelmäßig kritisiert die Hizbollah die Misswirtschaft der Regierung und die Korruption. Generalsekretär Nasrallah verurteilte vehement die tödlichen Schüsse und betonte die Notwendigkeit, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, aber nur mit friedlichen Mitteln. »Die Auseinandersetzungen«, so Nasrallah, »unterminieren die guten Beziehungen zwischen der Armee und der Hizbollah. Die Armee ist unser patriotischer Blutsbruder und Partner im Widerstand (gegen Israel).« Obendrein präsentierte er eine haarsträubende Verschwörungstheorie. »Individuen, die Verbindungen mit der US-Botschaft in Beirut haben«, hätten die Ausschreitungen provoziert.

Leicht könnte die Partei, die vor wenigen Wochen gegen die Irak- und Palästinapolitik der USA Hunderttausende von Menschen auf die Straße brachte, Massendemonstrationen für mehr soziale Gerechtigkeit organisieren. Aber ihre Aufrufe und die Unterstützung für die GLC waren nur halbherziger Natur. Denn soziale Konflikte sollen von einer weisen politischen Führung gelöst werden.

Die Hizbollah ist mit ihrem Netz von Schulen, Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen eine der größten sozialen Institutionen des Libanon. Auf der politischen Ebene sucht die Partei den »nationalen Konsens« und kooperiert mit dem Regierungsapparat. Mit ihrem pragmatischen Schlängelkurs hat sich die Hizbollah im politischen System fest etabliert, zugleich gilt sie vielen Libanesen als Alternative zur korrupten Oligarchie. Unkontrollierbare soziale Proteste kommen der Partei Gottes deshalb ebenso ungelegen wie der Regierung.

Die Regierung hat nach den Todesschüssen einige Tage lang geschwiegen. Dann versprach man »intensive Untersuchungen«, und schließlich entschloss man sich, die Familien der Toten mit rund 30 000 Dollar abzufinden und die Behandlungskosten für die Verletzten zu übernehmen. Ein Eingeständnis, dass die Armee die Verantwortung für den Tod der Demonstranten trage, will die Regierung darin aber nicht sehen.

Nach einer Woche drängte Präsident Emile Lahoud den Generalstaatsanwalt, seine »Bemühungen zu intensivieren, um diejenigen zu finden, die tatsächlich für die Unruhen verantwortlich sind«. 52 Demonstranten wurden bereits angeklagt, u.a. wegen Beschädigung öffentlichen Eigentums, Widerstands gegen die Staatsgewalt, eines Angriffs auf die Armee oder versuchten Mordes. Die Regierung erwartet, dass die Todesschüsse vergessen werden, sobald sie nicht mehr in der Presse präsent sind.

Man spielt auf Zeit, wie bei früheren Bank- und Korruptionsskandalen. Die mächtigen Clans der libanesischen Oligarchie regeln solche Angelegenheiten unter sich. Von den 3,6 Milliarden Dollar, die nach dem Krieg zur Rekonstruktion der Elektrizitäts- und Wasserwerke gezahlt wurden, verschwand nach Schätzungen rund ein Drittel in privaten Kanälen. Beim letzten großen Bankskandal stellte 2003 Al-Madina, eine der größten Banken des Landes, ungedeckte Schecks im Wert von 25 Millionen Dollar aus und transferierte 150 Millionen Dollar unrechtmäßig ins Ausland. Die recht halbherzig betriebenen Ermittlungen wurden eingestellt, nachdem das Geld zurückgezahlt worden war.

Bei einem Staatsdefizit von rund 30 Milliarden Dollar, einer Inflationsrate von 8,5 Prozent und einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent wollen viele Libanesen solche korrupten Praktiken nicht mehr akzeptieren. Die Unzufriedenheit wächst, immer mehr Menschen können ihren Lebensunterhalt mit einem Mindestlohn von 200 Dollar nicht mehr bestreiten. Die öffentlichen Schulen und Universitäten sind hoffnungslos überfüllt. Private sind so teuer, dass sich selbst die schrumpfende Mittelklasse den Luxus einer Ausbildung kaum noch leisten kann. Insbesondere die jüngere Generation drängt es ins Ausland, wo bereits mehr als zehn Millionen Libanesen leben, fast dreimal so viele wie im Land selbst.

»Bei all den Missständen hier im Libanon schießen sie auch noch auf Demonstranten«, meinte ein Ingenieur, der die Schulgelder für seine drei Kinder nicht mehr bezahlen kann. »Das ist Demokratie mit der Waffe in der Hand.« In einer Erklärung der Kommunistischen Partei heißt es, dass die Unruhen ein Indiz für »zunehmende Arbeitslosigkeit, Emigration, Korruption und die Verschwendung von Ressourcen« gewesen seien.

Doch trotz der Unzufriedenheit waren die Proteste gegen die hohen Benzinpreise und die Steuerpolitik der Regierung eine Pleite. Die Beteiligung von gerade einmal 5 000 Menschen blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Auch die GLC und ihre Führungsfunktionäre werden als Werkzeuge in den Händen der Regierung gesehen. Denn im Libanon bekommt niemand ein Amt, der nicht enge Beziehungen zur politischen Machtelite hat.