Drehbuchautor und Schriftsteller Benny Barbash

»Es gibt die Angst vor einem neuen Holocaust«

Ein Gespräch mit dem Drehbuchautor und Schriftsteller Benny Barbash über die religiöse Begründung des Staates Israel und die Bedeutung des Holocaust für die junge Generation
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er linke Schriftsteller und Drehbuchautor Benny Barbash wurde außerhalb Israels vor allem mit seinem vor zehn Jahren erschienenen Roman »Mein erster Sony« bekannt. Darin beschreibt er die Widersprüche der israelischen Gesellschaft anhand komischer und tragischer Episoden einer Familiengeschichte. Der 53jährige Historiker diente elf Jahre lang in der israelischen Armee, zuletzt als Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons. Er kritisiert immer wieder in der Öffentlichkeit die Behandlung der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Im kommenden Jahr erscheint sein neuer Roman »Rerun« auf Deutsch. Barbash hat vier Kinder und lebt mit seiner Familie im Norden Tel Avivs. Dort trafen ihn Ivo Bozic und Stefan Rudnick.

Am Shabbat ist in Tel Aviv Party angesagt, in einigen Teilen Jerusalems sind aber sogar die Bankautomaten abgeschaltet. Spaltet der Konflikt zwischen säkularen und religiösen Juden die israelische Gesellschaft?

Das ist einer der bedeutsamsten Konflikte in Israel. Er betrifft den Zusammenhalt und die Identität der israelischen Gesellschaft. Er ist schwer zu verstehen, wenn man die Struktur der israelischen Gesellschaft nicht genau kennt. Es gibt hier viele Arten und viele Abstufungen, religiös zu sein. Es gibt Orthodoxe, die gleichzeitig Antizionisten sind, mit denen wir Linken nicht die geringsten Gemeinsamkeiten haben. Es gibt aber auch rechtsextreme nationalistische Leute, die religiös sind. Und die sind sehr aktiv und politisch engagiert. Und dann gibt es natürlich die Säkularen. Aber wenn man hier von den Säkularen redet, meint man damit nicht zwangsläufig, dass sie Atheisten sind. Viele identifizieren sich trotzdem mit bestimmten religiösen Ritualen, sie sind nur nicht extrem. Nicht wenige sind auf eine Art sehr konservativ. Für sie ist es schwer zu akzeptieren, dass es ausgerechnet die religiösen Menschen sind, die unsere israelische Identität vermitteln. Wenn ich als Linker mit Rechten politisch diskutiere, dann kommen wir schnell an den Punkt, dass man, wenn man nicht religiös ist und nicht an Israel als gelobtes Land glaubt, vor der Frage steht, was einen dann an Israel bindet. Dann kann man ja überall hingehen. Wenn du nicht eine ganz feste Vorstellung davon hast, was dich mit diesem Ort verbindet, kann dich das ganz schön irritieren. Und diese Widersprüchlichkeit reißt Israel auseinander.

Ist das ein neuer Konflikt?

Nein. Dieser Konflikt ist so alt wie der Zionismus selbst. Im 19. Jahrhundert war der Zionismus ja eine Art Rebellion gegen die orthodoxe Gemeinschaft. Menschen, die in Zentraleuropa lebten, junge Menschen speziell, sahen, dass die Religiösen keine Antworten auf das existenzielle Dilemma der Juden hatten. Sie begründeten die zionistische Bewegung als Reaktion auf die Hegemonie der religiösen Leute. Anfangs diskutierten sie, ob man ins gelobte Land ziehen oder ob man einen anderen Ort wählen sollte. Vielen dieser Rebellen war klar, dass die Entscheidung für Israel sehr wichtig war, weil kein anderer Ort so anziehend auf die Juden in der Diaspora wirken konnte. Von Anfang an war man zwar säkular, bediente sich aber religiöser Symbole und Bezüge. Dieser Widerspruch wurde immer problematischer für die zionistische Bewegung. Der Sechstagekrieg 1967 stellte eine Art Bruch dar. Damals schwappte eine missionarische Welle über das Land, auch über die säkularen Israelis. Diese romantische und insofern auch gefährliche Tendenz ist von säkularen Leuten mitzuverantworten, die mit religiösen und orthodoxen Symbolen, mit der Möglichkeit, das gelobte Land zu sehen und die Gräber der Vorväter, für ihre zionistische Idee geworben haben. Die gesamte Geschichte der zionistischen Bewegung und Israels hat mit der Dichotomie zwischen Religiösen und Säkularen zu tun.

Dennoch ist Israel letztlich als religiöser Staat entstanden und ist es ja bis heute.

Es ist schwierig, Israel so klar zu definieren. Vieles ist sehr widersprüchlich, offen, durcheinander. Wenn ich junge Linke aus Europa treffe, stelle ich fest, dass sie oft eine sehr eindimensionale Sicht auf die israelische Gesellschaft haben. Aber die Wirklichkeit ist sehr viel komplexer. Es gibt viele besonders radikale Säkulare, die zur politischen Rechten gehören. Es hängt von den Themen ab, aber in manchen Kämpfen finde ich mich an der Seite von Rechten wieder. Das ist sehr interessant, aber auch sehr verwirrend.

In Ihrem Buch »Mein erster Sony« konvertiert der Bruder des Protagonisten zum ultraorthodoxen Glauben. Ist das realistisch? Welche Anziehungskraft üben die Orthodoxen auf israelische Jugendliche aus?

Das Phänomen, dass säkulare junge Menschen eine Zuneigung zu religiösen Ritualen oder Symbolen entdecken, ist sicher eine Randerscheinung, aber es existiert. Man muss bedenken, dass die Hälfte der israelischen Gesellschaft versucht, säkulare Jugendliche zum Glauben zu bewegen, eine Art innerisraelische Missionierung. Aber es gibt natürlich auch das gegenteilige Phänomen, dass Jugendliche, die in extrem religiösen Familien aufwachsen, der Religion den Rücken kehren, wenn sie 18 werden.

Das führt dann sicher zu Problemen mit ihren Familien.

Oh, ja. Die meisten bekommen eine Menge Probleme in der Gemeinschaft, aus der sie stammen. Sie werden ausgestoßen, man bricht mit ihnen. Mein Vater, der ein links orientierter Mensch ist, wuchs in einer sehr, sehr orthodoxen Familie auf. Und alle seine Brüder, sofern sie noch leben, sind immer noch sehr religiöse Leute. Ich erzähle auch gerne das Beispiel der Familie von Benjamin Netanjahu. Einer der Brüder seiner Frau ist ein radikaler Linker. Dessen Sohn ist in Schwierigkeiten geraten, weil er den Wehrdienst verweigert hat und den Einsatz von Soldaten in den besetzten Gebieten ablehnt. Der andere Bruder von Netanjahus Frau ist ein extrem rechter, nationalistischer und religiöser Mensch. Jetzt stell dir vor, was in dieser Familie passiert, wenn sie anlässlich von Familienfesten zusammenkommt. Sie ist so etwas wie ein Mikrokosmos der israelischen Gesellschaft.

Ist es einfacher, von der Religion wegzukommen als sie sich anzueignen?

Es ist wesentlich schwieriger, eine religiöse Familie zu verlassen und ein Säkularer zu werden, als andersrum. Wenn Jugendliche die säkulare Gesellschaft verlassen, weil sie keinen Sinn in ihrem Leben oder keine Zukunft für sich sehen, dann finden sie in der orthodoxen Gemeinschaft, wenn sie aufgenommen werden, einen sehr klaren Plan vor, was sie zu tun und was sie zu unterlassen haben. Dort ist alles geregelt. Wenn Jugendliche andersherum diese Gemeinschaft verlassen, was finden sie dann vor in der säkularen Gesellschaft? Vieles erscheint entblößt, und sie müssen ihr Leben, das vorher in völlig geregelten Bahnen verlief, plötzlich selbst organisieren und ihm selbst einen Sinn geben.

Wie beliebt sind die Orthodoxen in Israel? Werden sie nicht auch von vielen als Außenseiter belächelt?

Es hängt davon ab, über welche Orthodoxen man spricht. Die antizionistischen Ultra-Orthodoxen sind nicht sehr beliebt. Aber die Nationalreligiösen wie die Mafdal-Partei sind ziemlich erfolgreich. Sie haben Anziehungskraft auf junge Leute, weil sie eine aktive Bewegung sind und klare Ideale haben. Sie sagen, wo sie hinwollen. Wir Linken hingegen beginnen meistens damit,dass wir sagen, was wir nicht wollen.

Ist die Religion das verbindende Element des weltweiten Judentums oder ist es das zionistische Projekt oder die Kultur?

Mein Vater ist, wie gesagt, auch ein sehr linker Mensch. Aber wenn wir über dieses Thema reden, dann streiten wir uns oft. Weil ich denke, dass die Orientierung der Menschen, die jetzt hier leben, nicht nur die Diaspora sein sollte, sondern dass es auch darum gehen muss, eine Lösung für das Zusammenleben mit den Palästinensern zu finden. Aber viele sehen Israel hauptsächlich als die Basis und die Zukunft für die Juden außerhalb, als den Ort, den es zu konservieren gilt für den Messias, der vielleicht irgendwann kommt, und sie haben kein Interesse an Beziehungen zu den arabischen Israelis und den Palästinensern in den besetzten Gebieten. Ich denke, die historische Mission des Zionismus ist vollendet, und wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass wir alle, Araber, Palästinenser, Juden, ein gemeinsames Schicksal teilen. In vielen Punkten fühle ich mich verbundener mit meinen arabischen Freunden, die in Jaffa leben, als mit mir unbekannten Juden in Cleveland, Ohio. Aber mit dieser Ansicht repräsentiere ich nur eine ganz kleine Minderheit in Israel.

In Deutschland und in der Welt wird Israel in erster Linie nicht als religiöser Staat gesehen, sondern als Staat der Überlebenden der Shoah. Wird das dem Land und seiner Gesellschaft heute gerecht?

Man kann nicht vor dem Fakt davonlaufen, dass die Existenz Israels mit dem traumatischen Erlebnis der Juden während der Naziära verbunden ist. Es ist ein ganz zentrales Thema im kollektiven Bewusstsein der israelischen Gesellschaft. Manchmal hört man von Palästinensern oder von Linken in Europa, dass wir jetzt die Nazis des Mittleren Osten seien. Das irritiert mich sehr. Das Trauma der israelischen Gesellschaft beginnt mit dem Holocaust und geht weiter mit dem Unabhängigkeitskrieg, dem Sinai- und dem Sechstagekrieg. Das Trauma ist so extrem, dass ich viele Reaktionen der Rechten in Israel verstehen kann. Das alles findet ja nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern hat sehr gute und konkrete Gründe. Es entspringt einem sehr authentischen Gefühl einer existenziellen Bedrohung.

Ist die junge Generation noch bereit, sich mit dem Holocaust auseinander zu setzen, oder haben Jugendliche ganz andere Interessen als Politik und Geschichte?

Es ist ja nicht so, dass man morgens aufwacht und über den Holocaust nachdenkt oder spricht. Aber ich sehe, wenn ich mit meinen älteren Söhnen rede, die jetzt 16 und 18 Jahre alt sind, dass es in ihren Adern, in ihrem Blut fließt. Sie wissen Bescheid, sie denken darüber nach, und sie sind besorgt über die Möglichkeit, dass sich so etwas wiederholt.

Das klingt, als gebe es keine großen Unterschiede zur älteren Generation.

Vor dem Sechstagekrieg, als die Uno-Truppen noch im Sinai waren und wir belagert wurden, begannen die Leute hier über die Möglichkeit eines neuen Holocaust zu reden. Wenn wir Israelis fühlen, dass uns etwas gefährlich werden könnte, verknüpfen viele das unmittelbar mit ihren Erfahrungen mit dem Holocaust. Die Angst, so etwas noch einmal erleben zu müssen, ist sehr stark in der israelischen Gesellschaft. Wenn man von Europa aus auf uns schaut, dann sieht Vieles, was wir hier machen, wie Irrsinn aus, aber ein Teil der Erklärung dafür ist diese furchtbare Erinnerung und Erfahrung.

In »Mein erster Sony« schildern Sie einen teilweise etwas respektlosen Umgang der Jugend mit diesem Thema.

Nein, nicht Respektlosigkeit. Wenn man etwas nicht begreifen kann oder nur eine ungenaue Vorstellung von etwas hat, dann benutzt man Ironie oder Humor, um damit klarzukommen.

In einer in Berlin umstrittenen Ausstellung mit dem Titel »Wonderyears« inszenierte der Künstler Tsafrir Cohen das Thema Holocaust als Slapstick und drückte das Bedürfnis junger Israelis aus, sich von dem Thema zu distanzieren.

Das ist das Privileg der Opfer, Humor und Ironie zu benutzen. Wenn ich in Deutschland bin und mit Deutschen rede, dann fehlt immer die Spontaneität, man passt immer auf jedes Wort auf, das man benutzt. Das müssen junge Israelis hier nicht. Mein Bruder ist Regisseur und hat jetzt gerade einen sehr kritischen Film fürs israelische Fernsehen gemacht über Soldaten, die sich weigern, ihren Dienst im Westjordanland zu leisten. Sollte er ein Angebot bekommen, diesen Film in Europa zu zeigen, wird er das ablehnen. Er denkt, es ist das eine, hier kritisch gegenüber Israel und unserer Gesellschaft zu sein, und eine ganz andere Sache ist es, Israel von außen zu kritisieren. Er befürchtet, dass sein Film von sehr oberflächlichen Linken in Europa als Werkzeug gegen Israel missbraucht wird.

Wie werden Sie Ihren jüngsten Sohn, der jetzt drei Jahre alt ist, an das Thema heranführen?

Ich halte nicht jeden Morgen beim Frühstück einen Vortrag für meine Kinder darüber. Aber wenn wir uns zum Beispiel über etwas unterhalten, das in der Zeitung steht, oder uns über irgendein politisches Thema streiten, dann taucht der Holocaust immer wieder auf. Oder wenn meine Mutter Geschichten aus ihrer Kindheit in Berlin erzählt, dann fragen ihre Enkel nach. Es braucht also keine formelle Holocaust-Erziehung, weil das Thema ein Eigenleben besitzt. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Gesellschaften ist es in Israel völlig unmöglich, vor politischen Themen zu fliehen. Sie durchdringen dein ganzes Leben. Ob das die Beziehungen zwischen Palästinensern und Israelis sind oder die Probleme zwischen religiösen und säkularen Leuten oder die Frage, wie liberal und offen die Gesellschaft werden soll. All diese Dinge dringen in die intimsten Ecken deines Lebens ein. Sie sind auch Schatten der Geschichte, die große jüdische Erfahrung des Holocaust ist also überall präsent.

Benny Barbasch: Mein erster Sony. List, Berlin 2003, 416 S., 8,95 Euro