Ein kurzes Glück

Betrunkene Fans aus ganz Europa, Autokorsos, eine Stadt außer sich. Lissabon wurde bei der Europameisterschaft die Hauptstadt der Ekstase. Ein Streifzug von andrej reisin, lissabon

Als Zlatan Ibrahimovic im Elfmeterschießen des EM-Viertelfinales Schweden gegen Holland den Ball in den Nachthimmel von Faro jagt, machen drei junge Herren am Tresen einer Lissaboner Bar aus ihrer Schadenfreude keinen Hehl. »Two David Beckhams, there’s only two David Beckhams«, singen sie aus voller Brust zur Melodie von »Guantanamera«. Weniger humorvoll zeigt sich die englische Yellow Press. Nach dem Ausscheiden Englands lädt sie alle Schuld beim Schweizer Schiedsrichter Urs Meier ab, der einem späten Treffer von Sol Campbell die Anerkennung verweigert hatte.

Neben Beleidigungen wie »Urs-Hole!« oder dem Appell an die niederen Instinkte – »You Swiss Banker« – werden die Leserinnen und Leser aufgefordert, Urs Meier kübelweise Hate-Mails zu schicken. Anschließend gibt es die übliche »investigative« Geschichte über Meiers Familienleben, und schließlich veröffentlicht die Sun Meiers Privatadresse. Meier bekommt Morddrohungen, die er und die schweizerische Polizei so ernst nehmen, dass er mit seiner Familie untertaucht.

Fußball ist eine ernste Angelegenheit, auch wenn Mick aus Manchester mit solchen Dingen auf keinen Fall etwas zu tun haben will. Sein Alter mag er nicht verraten, aber der Haaransatz schimmert bereits grau. Und so manche englische Niederlage hat ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Auf der linken Wade hat er die drei englischen Löwen tätowiert, rechts das Schild des heiligen Georg. Ein goldener England-Ohrring ist der einzige Schmuck, den er trägt. Dafür, dass er sich in diesem Outfit in einer Fußballkneipe aufhält, verhält sich der Mann so auffällig ruhig und höflich, dass man ihn irgendwann darauf ansprechen muss.

Spätestens dann, wenn einem die fraternisierenden Schweizer vom Nebentisch mit ihrem »Ficken, Neger, Frau am Steuer – Ungeheuer!«-Gebrüll so auf die Nerven gehen, dass man sich wünscht, Mick und seine Kollegen würden in dieser Sache tätig werden. Aber der Gentleman winkt ab. »No, I dont’t hate Germans, I mean we bet you 5:1. You’re playing lousy football these days, but so does England«, lässt er mich mit einem breiten Grinsen wissen. So weit, so gut. Aber vielleicht könnte er wenigstens einen Haufen Schweizer Vollidioten hassen, wegen Urs und so.

Aber auch hier keine Chance, denn das Image der englischen Fans, der ewige »drink and fight shit«, geht ihm schwer auf die Nerven. »I am here to correct it.« Pech gehabt, noch 45 Minuten Generve mit den Buben aus der Schwyz. Insofern bleibt an diesem Abend dann doch alles beim Alten. Haben alle erst mal gemerkt, dass man aus Deutschland kommt, gerät man meist in schlechte Gesellschaft, so oder so.

Vier Tage später gilt es, das zu verhindern. Die Vorfreude auf das Halbfinale zwischen Portugal und Holland verfliegt innerhalb von Sekunden, stattdessen breitet sich Angst aus. Denn soeben hat ER die Lissaboner U-Bahn betreten: ungefähr sechzig, so dick wie breit, so betrunken wie laut. Und er ist Holland-Fan. Im Schlepptau hat er einen nicht zu überblickenden Haufen junger, muskulöser und tätowierter Männer, die sich ebenfalls laut und aggressiv gebärden. Und er hat uns entdeckt.

Glücklicherweise trage ich aus modischen und anderen Gründen ein schickes, eng anliegendes Italien-Trikot, und schon geht es los: »Totti-Lama«-Sprechchöre werden angestimmt und erster Körperkontakt hergestellt. Dann kommt die auf Englisch gelallte Frage, wo meine weibliche Begleitung und ich denn herkämen. Ein kurzer Blickwechsel zwischen uns, in dem sich die Frage spiegelt, ob wir aus diesem Zug gesund herauskommen, wenn wir jetzt »Aus Deutschland« sagen, und dann wird gelogen, was das Zeug hält.

»Italien« als Antwort wird uns tatsächlich abgenommen, obwohl meine Bekannte ungefähr so italienisch aussieht wie Wayne Rooney. Der Rest ist Schweigen. »Ein Europa – unbezahlbar«, bei Mastercard hatte man sicher anderes mit diesem Slogan im Sinn. Es folgen Ausfälle und Zoten, feuchte Aussprache und SEIN Arm, den er um eine hilflos wirkende Portugiesin legt. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, wie Samuel Jackson in dem Film »Pulp Fiction« die Knarre zu ziehen und eine Predigt über Gut und Böse zu halten. Männerphantasien eben.

Danach entspannt sich die Situation, raus aus der Bahn und sofort das nächste Beispiel englischer Selbstironie genießen. Drei Lads betreten unseren Block, mit T-Shirts, auf denen vorne steht »We’re going home, but I don’t care coz …« und hinten der entsprechende Grund, zum Beispiel »We got Rooney« oder – etwas näher am eigenen Körpergefühl: »It’s only half hot, mum.«

Drei Stunden später lassen die feiernden Portugiesen niemandem mehr eine Wahl. Auf den Schreibtischen deutscher Redaktionen lag vermutlich schon so manche Analyse bereit, wonach das Ausscheiden Portugals auf das vermeintlich melancholische Gemüt der Gastgeber zurückzuführen sei. Stattdessen lassen es sich die Portugiesen nicht nehmen, die Holländer mit 2:1 zu schlagen und ins Finale einzuziehen.

Von wegen Fado! Das ganze Land versinkt in einem Freudentaumel - bis im Finale dann die Ernüchterung folgen wird. Doch bis dahin dröhnt Nelly Furtados EM-Song »Com uma força« aus den vorbeifahrenden Autos, die über und über mit den Nationalfarben Rot, Grün und Gelb geschmückt sind. Wo immer Menschen in Orange auftauchen, werden sie so lange umarmt, geherzt, an- und ausgelacht, bis ihnen nichts mehr übrig bleibt als mitzufeiern. Angesichts des ganzen Glücks ertappt man sich dabei, in ausgesucht erbärmlichem Portugiesisch mitzusingen.

Gegen Mitternacht fährt ein schwarzer Fiat Punto auf den Largo do Chiado am Rande von Lissabons Ausgehviertel, auf dem Dach steht ein gut gebauter junger Kerl in seiner ganzen Nacktheit und lässt sich vom amüsierten Publikum ausgiebig feiern. Am Rande des Platzes steht Angelo, 72 Jahre alt, er hält sich nicht ohne eine gewisse Würde an einem Straßenschild fest. »Das ist der größte Augenblick seit der Nelkenrevolution«, verkündet er und feiert weiter.

Portugals brasilianischer Trainer Scolari tanzt weiter wie ein Kind über das Feld, nachdem ihm mit dem Finaleinzug etwas geglückt ist, das er für »historisch wichtiger als die Weltmeisterschaft mit Brasilien« hält. Geschichtliche Dimensionen werden bei solchen Anlässen gerne herbeizitiert, und Scolari ergeht sich in Seefahrermetaphern und wähnt sich auf den Spuren von Christoph Kolumbus. Schon zu Beginn der portugiesischen Hymne heißt es pathetisch: »Helden der Meere, edles Volk, tapfere, unsterbliche Nation, errichte heute aufs Neue Portugals strahlende Größe.«

Die Niederlage im Finale gegen eine andere ehemalige Seefahrernation, Griechenland, ist für die portugiesische Presse denn auch nur mit dem Schicksal erklärbar: »Portugal ist stolz auf seine Fußballer. Im Finale fehlte das Glück«, titelte die Zeitung Record am Montag. Nach einem bleibenden Trauma klingt das jedenfalls nicht.