Pokern mit Piqueteros

Eine Gedenkdemonstration für ermordete Arbeitslosenaktivisten in Argentinien endete mit einem weiteren Toten. von jessica zeller

Linke Proteste anlässlich von Jahrestagen stellt man sich gemeinhin so vor: Leute, die früher gemeinsam demonstriert haben, organisieren nun etwa fünf verschiedene kleine Kundgebungen. Die andere Möglichkeit ist diese: Sie raufen sich zusammen, aber wirklich nur für diesen einen Tag, gedenken der Vergangenheit und einigen sich auf Redebeiträge, deren Inhalte auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauslaufen.

In Buenos Aires entschied man sich vorletzte Woche für die zweite Möglichkeit. Zwar nimmt die Mobilisierung der Bewegung und die Unterstützung der Bevölkerung für sie immer mehr ab, dennoch schienen die Voraussetzungen nicht schlecht, um an die Ermordung der Piqueteros Maximiliano Kosteki und Darío Santillán vor zwei Jahren zu erinnern. Wenn, ja wenn Argentinien nicht über einen brutalen Polizeiapparat verfügte, auf dessen Konto bereits die Morde an den beiden organisierten Arbeitslosen gehen. Denn kaum hatte die Polizei am 25. Juni die Straßen La Bocas im Süden von Buenos Aires von den letzten der etwa 50 000 Demonstranten geräumt, als Schüsse den Arbeitslosenaktivisten Martín Cisneros trafen. Der Piquetero wurde erschossen, als er nach der friedlich verlaufenen Demonstration eine von ihm mitorganisierte selbstverwaltete Kantine verließ.

Cisneros, genannt »El Oso«, »der Bär«, bekam keine Erste Hilfe, obwohl Nachbarn sofort die Polizei und den Notarzt verständigten. Erst etwa anderthalb Stunden nach dem Vorfall trafen ein Arzt und Sicherheitskräfte ein. Da war »El Oso« aber schon verblutet. Seine Mitkämpfer besetzten daraufhin kurzerhand die Polizeistation von La Boca. Für sie lag der Verdacht nahe, dass die Polizei ihn geplant zur Strecke gebracht hatte. Die Regierung ließ sie mit ihrer Besetzung gewähren.

Als Präsident Nestór Kirchner am nächsten Tag vor die Presse trat, wies er jede Verantwortung von sich. Indirekt beschuldigte er seinen parteiinternen Kontrahenten Eduardo Duhalde, schuld an der Gewalteskalation zu sein. »Mit dem schnellen Finger am Abzug sind die sozialen Proteste nicht zu lösen«, spielte Kirchner auf das repressive Vorgehen der argentinischen Sicherheitskräfte an, die Gerüchten zufolge immer noch auf das Kommando des ehemaligen Staatschefs Duhalde hören. Im Laufe der Woche traf sich Kirchner fast täglich mit Luis D’Elía von der ihm wohlgesonnenen Arbeitslosenorganisation FTV, zu der auch Cisneros gehörte. Dem Piquetero D’Elía bekundete der Präsident sein Beileid, beharrte auf seiner Strategie des friedlichen Umgangs mit den Protesten und gab sich entschlossen, die Verantwortlichen für den Tod Cisneros’ möglichst schnell zu finden.

Anders als Kirchner und die ermittelnde Justiz aber hat D’Elía die Täter im Hintergrund schon ausgemacht: Der Politiker Eduardo Duhalde und Raúl Castells von der klassenkämpferischen Strömung der Piqueteros machten gemeinsame Sache, verkündet D’Elía regelmäßig, wenn es zu Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitslosen und der Polizei kommt. Während Duhalde und die Rechte von einem Klima der Unsicherheit profitierten, bekomme Castells gutes Geld aus mafiösen Netzwerken.

Eine Verschwörungstheorie in Zeiten der Krise der Bewegung? »Ich glaube, D’Elía hat tatsächlich Recht. Castells ist eine obskure Person. Immer wenn sich Duhalde und Kirchner darüber streiten, wie man den sozialen Bewegungen langfristig begegnen soll, gibt es eine Aktion von Castells eigentlich marginaler Gruppe, und die Forderung nach einem härteren Durchgreifen ist wieder auf der Tagesordnung«, sagt der argentinische Sozialwissenschaftler Germán Pérez zur Jungle World. Die Taktik, Unsicherheit und Chaos selbst zu erzeugen und damit jede Kritik am Bestehenden zu delegitimieren, sei der Rechten nicht fremd. »Das hat es bereits in den Jahren vor der letzten Diktatur gegeben«, erklärt Pérez.

Unabhängig von der Frage, ob mit den Piqueteros verhandelt werden soll oder nicht, wird zwischen Duhalde und Kirchner bereits offen gestritten. Ende März blieb Kirchner dem Kongress der Justizialistischen Partei (PJ) fern, auf dem die Parteiführung neu gewählt werden sollte. Mit dem Hinweis, er selbst habe Besseres zu tun, erschien nur seine Ehefrau Cristina. Sie warf vor laufenden Fernsehkameras der soeben ins Präsidium gewählten Frau Duhaldes vor, nur wegen ihres Ehemannes gewählt worden zu sein. Aus Protest gegen diesen Vorwurf legten innerhalb von drei Tagen vier Fünftel der neu gewählten Mitglieder des Parteivorstandes – allesamt Anhänger Duhaldes – ihr Amt nieder. In der argentinischen Presse geht man davon aus, dass Kirchner den Zwist arrangiert hat, weil ihm eine geschwächte, führungslose Partei lieber sei als eine starke.

Kirchner ist etwas mehr als ein Jahr im Amt, und noch immer glaubt er an seine Popularität in der Bevölkerung und an die Unterstützung außerhalb der PJ. Allerdings zeigt sich, dass gerade die Flexibilität der städtischen Mittelschicht, die Kirchners eigentliche Basis ist, die anfangs progressive Politik der Regierung immer mehr nach rechts laufen lässt. Die Einigkeit im Kampf von Mittelschicht und Piqueteros während der Aufstandstage im Dezember 2001 besteht schon lange nicht mehr. In Zeiten der wirtschaftlichen Erholung erscheint es vielen Menschen unverständlich, dass es eine zumal zerstrittene Arbeitslosenbewegung gibt, die immer noch nicht zufrieden ist. Die Presse, vornehmlich in rechter Hand, berichtet täglich von einem Anstieg der Gewalt, obwohl es die nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen gar nicht gibt. Gerade die Piqueteros werden vermehrt als »Unruhestifter« bezeichnet.

Bestes Beispiel für die Entkopplung der Verbindung von Armut und Gewalt ist der Ende März eingeleitete »Kreuzzug für mehr Gerechtigkeit« von Juan Carlos Blumberg. Dessen Sohn Axel, ein 23jähriger Student aus der Mittelschicht, wurde entführt und kam schließlich durch das unkoordinierte Vorgehen der Polizei zu Tode. Heute ist er eine Art Opfer-Ikone, deren Bild fast täglich in Zeitungen und im Fernsehen erscheint.

An der ersten Demonstration unter der Regie des medienwirksamen Vaters nahmen fast 200 000 Menschen teil. Drei Wochen später zählte die Unterstützerliste von Blumbergs »Zwölfpunkteplan« bereits zwei Millionen Unterschriften, unter ihnen so illustre wie die Diego Maradonas. Blumbergs Anliegen ist eine Mischung aus Forderungen nach Korruptionsbekämpfung, »effizienteren« Gerichten und stärkerer Verfolgung der Täter. Zudem plädiert er für ein »produktives Verhalten« der Piqueteros. Gehör findet er nicht nur bei Kirchner, der bereits einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht hat. Auch die sich unsicher fühlende Mittelschicht sowie Law-and-Order-Politiker und die katholische Kirche haben ein offenes Ohr für den Aktivisten.

Inwieweit Kirchner zukünftig noch die Gratwanderung gelingt, sowohl Blumbergs Anliegen als auch den Wünschen nach einer »neuen Politik« von Seiten der sozialen Bewegungen nachzukommen, ist unklar. Viele Protestgruppen wollen Blumberg und seine Anhänger nicht ignorieren und auch die eigenen Vorstellungen von sozialer Sicherheit und die Opfer staatlicher Gewalt mit in die Debatte einbringen.

Die linke Gruppe Colectivo Situaciones geht davon aus, dass es sich letztlich um einen Kampf um Diskurs- und Medienhoheit handelt. Die sozialen Protestbewegungen müssten mehr als zuvor offensiv agieren und dürften sich nicht in Demonstrationsritualen erschöpfen. Denn »die Umgarnung der sozialen Bewegungen durch die Regierung ist sicher eine Gefahr. Noch schlimmer aber ist die Alternative. Die wäre ein erfolgreiches Wiedererrichten einer repressiven Staatsgewalt, die jeden Protest schon von vornherein kriminalisiert.«