Samen der Freiheit

Die liberale Regierungspartei hat in Kanada überraschend die Parlamentswahlen gewonnen. Der separatistische Bloc Québécois konnte auch absahnen. von william hiscott

Donnerwetter, das ist verblüffend. Die Umfragen waren falsch«, staunte die Politikwissenschaftlerin Lisa Young am Dienstag vergangener Woche, einen Tag nach der Parlamentswahl in Kanada. Stephen Harper, der Chef der Conservative Party, hatte fest mit einem Sieg seiner Partei über die seit 1993 regierende Liberal Party gerechnet. Ähnlich wurde es auch in allen Prognosen, von politischen Analysten und Politikern aller Couleur vorausgesagt.

Dennoch haben die Liberalen mit 135 der insgesamt 308 Sitze und 36 Prozent der Stimmen die Wahl gewonnen. Über vierzig Mandate und die absolute Mehrheit gingen der Partei zwar verloren, aber die Konservativen konnten sich in den einzelnen Wahlkreisen nicht wie erhofft durchsetzen. Mit 99 Sitzen und 29 Prozent der Stimmen schnitt die Conservative Party zwar deutlich besser ab als ihre zwei Vorgängerparteien vor vier Jahren zusammen, aber letztlich lag das Ergebnis weit hinter dem der Liberalen. Der separatistische Bloc Québécois fuhr dagegen ein Traumergebnis ein. Er trat wie immer nur in Québec an und erhielt auf das ganze Land gerechnet 12 Prozent der Stimmen und insgesamt 54 Mandate, das entspricht mehr als zwei Dritteln der Mandate Québecs. Auch die linken New Democrats verdoppelten ihren Stimmenanteil mit über 15 Prozent gegenüber der letzten Wahl im Jahr 2000 und konnten 19 Mandate für sich verbuchen.

Alle Oppositionsparteien profitierten davon, dass die liberale Regierung in den vergangenen Jahren in verschiedene Skandale verwickelt war. Vor allem der so genannte Sponsorship-Skandal sorgte für Empörung. Die Regierung unter dem im letzten Jahr in Rente gegangenen Premier Jean Chrétien hatte parteinahe Firmen gegen Spenden mit staatlichen Aufträgen versorgt. Paul Martin, seit einem halben Jahr Chrétiens Nachfolger, zeigte Verständnis für die Verluste seiner Partei und sah sich gezwungen zu versichern: »Als Regierung werden wir hart arbeiten und Ehrlichkeit, Integrität und tiefen Respekt für das Geld der Steuerzahler demonstrieren.«

Aber abgesehen von den Mauscheleien der Liberal Party, sind die Kanadier offensichtlich zufrieden mit der politischen Richtung ihrer Regierung. Die linksliberale und soziale Orientierung, die seit Jahrzehnten in Kanada dominiert, sollte nicht eingetauscht werden gegen eine von den Konservativen geforderte »Amerikanisierung« des Landes. Die Führung der Conservative Party, die Ende 2003 durch einen Zusammenschluss der rechten Canadian Alliance und der angeschlagenen, liberalkonservativen Progressive Conservatives entstanden ist, propagierte eine engere Orientierung an der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik der Konservativen in den USA.

Der Bloc Québécois kann nach seinem größten Sieg seit elf Jahren nun auf einiges hoffen. Die Partei hat bereits angekündigt, die Regierung zu unterstützen, falls dafür Vorteile für Québec herausspringen. Die künftige liberale Minderheitsregierung wird dieses Angebot nur schwerlich ausschlagen können. Auch die Frage nach der Sezession Québecs wird wegen des Erfolgs des Bloc wieder verstärkt auf die Tagesordnung gesetzt werden, obgleich sich der Vorsitzende Gilles Duceppe um Mäßigung bemühte: »Wir repräsentieren alle Quebecer. Dies ist unsere Pflicht und unser Mandat.« Allerdings fügte er sofort hinzu: »Nichts hält uns davon ab, eine souveränistische Partei zu sein.« Zurückhaltung in der Sezessionsfrage ist für die Separatisten vor allem deshalb geboten, weil ein Referendum unter der jetzigen liberalen Provinzregierung Québecs auf keinen Fall durchführbar ist und die nächsten Provinzwahlen erst 2008 stattfinden. Deswegen scheint die wichtigste Dauerfrage Kanadas – die Einheit der seit 1867 unabhängigen Konföderation – für die nächsten vier Jahre aufgeschoben zu sein.

Doch gibt es nicht nur einen anhaltenden Willen zur Sezession im francophonen Québec, sondern auch große regionale Unterschiede im zweitgrößten Flächenland der Welt. Ähnlich wie in den USA ist der Osten liberal, der Westen konservativ. So regiert die Liberal Party seit geraumer Zeit auf konföderativer Ebene maßgeblich durch die Zustimmung der Wähler in den östlichen Provinzen, allen voran in Kanadas bevölkerungsstärkster Provinz Ontario. Im Fall einer Sezession Québecs käme möglicherweise auch die Frage auf, ob sich der konservative Westen nicht vom Osten abkoppeln könnte.

Auch die New Democrats – sozialdemokratische Politik und radikale Ökologiemaßnahmen stehen bei dieser Partei hoch im Kurs – befinden sich in einer Schlüsselposition im neuen Parlament. Zwar reichen ihre 19 Sitze nicht aus, um zusammen mit der Liberal Party eine Mehrheit zu bilden – hierfür fehlt ein Sitz –, aber es zeichnet sich schon ab, dass die Linken eine größere Bedeutung im Parlament haben werden als in den letzten Jahrzehnten. Die Liberal Party unter Martin tendiert sowieso bereits nach links, besonders bei den anstehenden Reformen zur Städteerneuerung und des Gesundheitswesens. Der Chef der New Democrats, Jack Layton, gibt sich daher hilfsbereit: »Wir müssen alle für das Gemeinwohl zusammenarbeiten.«

Allerdings möchten die New Democrats ihre erstarkte Position auch benutzen, um sich für eine Reform des Wahlsystems einzusetzen. Weil das jetzige Mehrheitswahlsystem die kleineren Parteien stark benachteiligt, wollen die New Democrats ein Proporzwahlsystem einführen. Für Wahlanalysten gilt als sicher, dass viele Wähler allein aus taktischen Gründen für die Liberalen und gegen die Konservativen stimmen, anstatt ihr Kreuz bei einer kleineren Partei zu machen, da sie glauben ihre Stimme sei ansonsten verloren. Layton schlussfolgert daraus: »Es gibt ein großes Interesse an einer grundlegenden demokratischen Reform. Die Leute sollten in der Lage sein, dafür zu stimmen, woran sie glauben. Deshalb brauchen wir eine Reform des politischen Systems und eine Einführung der proportionalen Repräsentation.« Auch die Green Party of Kanada, die vier Prozent der Stimmen gewann, hat im jetzigen Mehrheitswahlsystem keine Chance.

Im Gegensatz dazu können sich die kanadischen Kiffer freuen. Diese Gruppe hat sich aufgerafft, ist zur Wahl gegangen und hat einen Achtungserfolg erzielt. Die Marijuana Party, die mit dem Ziel antrat, die »Samen der Freiheit« zu streuen, konnte über 33 000 Stimmen für sich verbuchen.