Das Brot zur Suppe

Fatih Akin und Feridun Zaimoglu sind bekannt. Was die kanakische Kultur in Berlin sonst zu bieten hat, steht in Tellal. von deniz yücel

Viele Sonnenblumenkerne, gleichzeitig geknackt, können ganz schön laut sein. An diesem Abend in Kreuzberg – es ist die Premiere des Freiluftkinos »Çekirdek« – sind es einige Dutzend Leute, die unermüdlich an den kleinen Kernen knabbern. Den Filmgenuss stört das nicht, ebenso wenig wie die etwas lädierte Bild- und Tonqualität oder die Zuschauer, die den Charakteren auf der Leinwand zurufen, wie sie sich verhalten sollen. Was bei anderen Filmen eine Qual wäre, ist bei den alten türkischen Melodramen und Komödien, die hier gezeigt werden, möglicherweise die einzig erträgliche, sicher aber die beste Kinoatmosphäre.

Die Organisatoren haben sich alle Mühe gegeben, diese Atmosphäre aus dem längst verblichenen türkischen Freiluftkino wieder zu beleben. Für den Nachschub an Sonnenblumenkernen sorgt eine Röstmaschine, die aussieht wie eine Dampflok und mit einer ähnlichen Technik ausgestattet zu sein scheint. Zu trinken gibt es schwarzen Tee, Gazoz-Limonade und Efes-Pilsen-Bier, dazu Granatäpfel und Eis, rechtzeitig vor der bewegendsten Szene werden Papiertaschentücher ins Publikum gereicht.

Organisiert wird das Freiluftkino von Tellal, dem deutschsprachigen Kulturkalender, der seit Februar dieses Jahres erscheint und kostenlos in Kneipen und Clubs ausliegt. Waren die ersten Nummern des Hochglanzmagazins im handlichen A6-Format noch türkischen Veranstaltungen und Künstlern gewidmet, hat man den Blick nun erweitert.

»Tellal« heißt auf Arabisch Vermittler, im Osmanischen Reich war der Tellal der öffentliche Ausrufer von Bekanntmachungen. »Auch wir wollen vermitteln und bekannt machen«, sagt Redakteur Kaan Müjdeci. »Es gibt eine vielfältige migrantische Kulturszene, die höchstens innerhalb der jeweiligen Community zur Kenntnis genommen wird.« Sein Kollege Sascha Wilczek ergänzt: »Hierzulande wird über Integration fast immer in politischen, sozialen und administrativen Kategorien geredet, und das meist über die Köpfe der Leute hinweg. Wir wollen das kulturelle Leben und Schaffen von Berliner Migrantinnen und Migranten zeigen, ohne sie dabei auf ihre ethnische Herkunft zu reduzieren.«

Tatsächlich hat sich die deutsche Öffentlichkeit bisher nur saisonal mit kanakischen Künstlern beschäftigt. Die wenigen, die es geschafft haben, sich zu etablieren, gelten eher als Farbtupfer denn als Ausdruck einer Normalität, wie man sie in einem Land mit rund acht Millionen Einwanderern erwarten könnte. Und eher früher als später kommt die Frage, wohin sie gehören. Auf dieses ewige deutsche Verhör gibt der Schriftsteller Serdar Somuncu in Tellal eine Antwort, die es verdient, ausführlich zitiert zu werden: »Die erste Frage, die wir Türken kennen, ist: Fühlst du dich eigentlich mehr türkisch oder deutsch? Und das ist eine Scheißfrage. Ich fühle mich manchmal türkisch, manchmal fühle ich mich jugoslawisch, manchmal fühle ich mich wie ein Hund. Das kann ich nicht jeden Tag definieren, und ich will das auch gar nicht.«

Politisch homogen waren die Kanaken, auch die türkischstämmigen, noch nie. Fast ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Arbeitsimmigration haben sie sich weiter ausdifferenziert. Was verbindet den mittelständischen Unternehmer, dem eine Imbisskette gehört, mit seinen Angestellten, die oft genug für ein paar Euro zwölf Stunden am Grill stehen? Oder die Schwulen und Lesben, die auf den »Gayhane«-Partys im Kreuzberger SO 36 ihr fröhliches Coming-out feiern mit jenen Neuköllner Eltern, die darum wetteifern, wer die eigene Tochter noch früher verschleiert? Am ehesten noch, dass sie alle von Erfahrungen mit Rassismus berichten können. Vielleicht auch, dass sie zu einem Teller Suppe wahrscheinlich nach Brot verlangen. Und dass sie manchmal, und sei es nur in besonders sentimentalen Momenten, den Klängen eines Saz etwas abgewinnen können. (Man komme mir nicht mit irgendwelchen Ausnahmen, die kenne ich selbst.)

Jedenfalls ist dieses vage Etwas nur ein Element für allerlei Vermischungen und Übergänge, für kosmopolitische Alltagswelten und eine ebensolche Kunst. Tellal eröffnet den Blick auf Differenzen und Heterogenität, ohne eine theoretische Zeitschrift zu sein und sein zu wollen.

Andererseits will man sich nicht mit einem um Interviews und Kurzrezensionen angereicherten Kalender begnügen. »Wir stehen am Anfang und bauen den redaktionellen Teil langsam aus«, sagt Kerem Atasever, der dritte Redakteur. »Wir sind offen für neue Autoren, und vielleicht wird aus Tellal eine Kulturzeitschrift, die es am Kiosk gibt.« Trotz allgemeiner Flaute ist es gelungen, genügend Anzeigenkunden zu akquirieren, so dass zumindest der Vermieter und die Druckerei bezahlt werden können.

Schon jetzt sieht Tellal gut aus. Anders als die meisten werbefinanzierten Kulturkalender, die es als redaktionelles Prinzip erachten, möglichst jede Seite mit drei Bildern und zwei Anzeigen in Briefmarkengröße zu bepflastern, überzeugt Tellal mit einer hübschen und großzügigen Gestaltung von Bild und Text.

Politische oder soziale Themen und Konflikte, auch unter den Migranten, werden bislang nur indirekt angesprochen. So hieß es in einer der ersten Besprechungen von Fatih Akins »Gegen die Wand«, der Film handle vom »Versuch junger Migranten, sich aus den Zwängen ihrer Kultur zu befreien und den streng religiösen Familienbanden zu entkommen«. Offensichtlich liegt bei mancher »kulturellen Wurzel«, deren »freie Entfaltung« an anderer Stelle im Heft gefordert wird, doch einiges im Argen. Aber für den Anfang braucht es vielleicht keine Essays über patriarchale und homophobe Auffassungen unter Migranten, die Berichterstattung über türkische schwul-lesbische Partys allein ist eine Stellungnahme, nicht zuletzt gegen den zunehmenden Einfluss der Islamisten.

Persembe, die wöchentliche Beilage der taz, ist mit einem politisch-kulturellen Anspruch gescheitert. Im Gegensatz zum Berliner Stadtmagazin Merhaba, das seit acht Jahren erscheint und demonstriert, wie das Experiment Tellal Erfolg haben und dennoch daneben gehen könnte. In Merhaba findet sich kein kritisches oder anstößiges Wort, das Heft quillt über von Erfolgsstorys über Fleischwarenhersteller, Reiseunternehmer und Fußballvereine, die eingequetscht sind zwischen Werbeanzeigen von Fleischwarenherstellern, Reiseunternehmern und Fußballvereinen.

Allerdings passt der Vergleich nur bedingt, ebenso wie der mit Detay, einem türkischen Lifestyle-Magazin für Nordrhein-Westfalen. Schließlich legt die Tellal-Redaktion Wert darauf, kein türkisches Magazin zu sein, weshalb der ursprünglich türkische Untertitel in »Magazin der Kulturen« geändert wurde.

Vor kurzem wurden neue Redaktionsräume bezogen, in einer fast leeren Ladenzeile in der Markgrafenstraße, dem tristen Grenzgebiet zwischen Kreuzberg und Mitte. Das Springer-Hochhaus und das Gebäude der taz liegen um die Ecke, gegenüber sitzt das türkische Stadtradio Metropol FM. Kein schlechter Ort, um etwas Neues zu beginnen. Aber ein Wort unter Freunden: Einen Untertitel, der an den Multikulti-Schmus erinnert, habt Ihr nicht nötig.

Freiluftkino Çekirdek. Freitags und samstags 21 Uhr, Skalitzer Straße 41, Berlin-Kreuzberg