Aufstand gegen den Cousin

Während Ministerpräsident Sharon eine Mehrheit für die geplante Räumung des Gazastreifens sucht, sind die Machtkämpfe in Arafats Fatah-Bewegung eskaliert. von michael borgstede, tel aviv

Wir haben eine Krise. Es herrscht Chaos.« Mit diesen Worten kündigte der palästinensische Ministerpräsident Ahmed Qurei am vergangenen Samstag seinen Rücktritt an. Erwartungsgemäß lehnte Arafat das Gesuch zunächst ab, doch die halbherzigen Beschwichtigungsversuche des Präsidenten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Amtszeit des zweiten palästinensischen Regierungschefs zu Ende geht.

Zehn Monate ist Qurei mittlerweile im Amt, dreimal so lange wie sein Vorgänger Mahmoud Abbas. Erreicht hat er genauso wenig. Einen erheblichen Anteil an diesem Misserfolg hat Yassir Arafat, der die von allen Seiten eingeforderten Reformen verweigerte und keinen Deut von seinem absoluten Machtanspruch als Rais (Oberhaupt) der Palästinenser abrückte.

Ausgerechnet einigen Angehörigen des militanten Flügels von Arafats Fatah-Organisation platzte jetzt der Kragen. Am vergangenen Freitag entführten Bewaffnete den Chef der Polizei in Gaza, Ghasi Jabali, einen weiteren Sicherheitsoffizier sowie vier französische Mitglieder einer Hilfsorganisation. Im Gegenzug zu Arafats Versprechen, endlich eine Reform der zahlreichen Sicherheitsdienste einzuleiten, entließen die Entführer ihre Gefangenen.

Doch bald wurde deutlich, wie ernst der Rais es meinte. Statt eines Dutzends konkurrierender Geheim- und Sicherheitsdienste soll es in Zukunft nur noch drei geben. Das hatten sich das Nahostquartett und die Ägypter schon längst gewünscht. In fast naiver Dreistigkeit beschloss Arafat jedoch, seinen Cousin Musa Arafat zum Chef der Militärpolizei zu ernennen. Abgesehen von den familiären Banden, hat Musa Arafat im Gazastreifen keinen besseren Ruf als der gerade gefeuerte Jabali.

Die Proteste ließen nicht lange auf sich warten. Noch in der Nacht zum Sonntag gingen über 3 000 Palästinenser auf die Straße und demonstrierten gegen die offensichtliche Vetternwirtschaft in der Palästinenserbehörde. »Nein zur Korruption, ja zu Reformen«, skandierten sie. Musa Arafat wurde als »Hund« bezeichnet, der genauso verschwinden würde wie sein Vorgänger.

Die in die Entführungen verwickelten Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden drohten ganz konkret: »Die Entführungen werden weitergehen, solange korrupte Beamte, diese Verräter und Kollaborateure, die für Israel und die Vereinigten Staaten arbeiten, in ihren Positionen bleiben.« Man habe eine Liste mit Namen von Personen aufgestellt, denen man »eine Lehre erteilen« müsse. In einer weiteren Eskalation brachten bewaffnete Männer in Khan Junis im Gazastreifen eine Station des Militärgeheimdienstes in ihre Gewalt und legten dort Feuer. Es handele sich um eine »klare Aufforderung an den korrupten Musa Arafat«, sein Amt nicht anzunehmen, hieß es in einer Erklärung.

Am Sonntagabend griffen hunderte Bewaffnete und eine wütende Menge die Hauptquartiere des militärischen Geheimdienstes in Rafah mit Schüssen, Molotov-Cocktails und Steinen an. Tags darauf wurde Musa Arafat von seinem neuen Posten wieder abberufen.

Doch wer steckt hinter dem Aufruhr? In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Name Mohammed Dahlan. Der ehemalige Sicherheitschef im Gazastreifen und spätere Innenminister unter Mahmoud Abbas hat seit seinem Rücktritt kein offizielles Amt mehr inne. Nach einem Englischkurs in Oxford – und schon das deutet daraufhin, dass Dahlan seine politische Karriere keineswegs als beendet ansieht – kehrte er in den Gazastreifen zurück und ärgert sich seitdem mehr oder weniger vernehmbar über das zunehmende Chaos.

Dahlan sieht in dem geplanten Rückzug der Israelis eine Chance für die Palästinenser, fürchtet aber ein Machtvakuum, das die auf den Straßen populäre islamistische Hamas füllen könnte. Und natürlich möchte er seinen Job zurück, oder besser noch gleich eine Stufe höher aufsteigen. Er wird sich gedulden müssen. Das Monument Arafat wankt, aber es fällt noch nicht.

Während in Gaza und Ramallah um Reformen und Positionen gekämpft wird, ist Israels Ministerpräsident Ariel Sharon damit beschäftigt, seine angeschlagene Koalition zu konsolidieren. Es begann mit einem Frühstück, bei dem Sharon und der Oppositionsführer Shimon Peres die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen »so schnell wie möglich« beschlossen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer und sorgte für Aufruhr unter den Abgeordneten von Sharons Likud-Block.

Während Peres aus seiner Begeisterung für einen Regierungsbeitritt seiner Arbeitspartei keinen Hehl machte und problemlos die zweifelnden Parteikollegen auf seinen Kurs brachte, musste Sharon in der Auseinandersetzung im Likud schwere Geschütze auffahren: »Entweder alle Abgeordneten der Fraktion stimmen in Vertrauensfragen mit der Regierung, oder ich werde die Koalition erweitern müssen«, drohte er seinen Parteikollegen. »Wenn ihr das nicht wollt – und ihr wollt das nicht –, steuern wir auf Neuwahlen zu.«

Seit über der Auseinandersetzung zum Rückzugsplan aus Gaza einige Abgeordnete abtrünnig geworden sind, verfügt der Ministerpräsident über keine Mehrheit mehr in der Knesset. Seit Wochen stimmen bei Vertrauensfragen die Abgeordneten aller Parteien wild durcheinander. Als das am Mittwoch der vergangenen Woche wieder geschah und Sharon ein Misstrauensvotum mit 55 zu 55 Stimmen überstand, verließ er ob des peinlichen Unentschiedens sichtlich verärgert den Saal.

Nachdem die Verhandlungseröffnung mit der Arbeitspartei seine Parteikollegen gegen ihn aufgebracht hatte, beschloss Sharon, sogleich eine zweite Front zu eröffnen, und fragte einen Abgeordneten der ultra-orthodoxen Partei Vereinigtes Thora-Judentum, ob dessen Organisation Interesse an einem Koalitionsbeitritt habe. Die Antwort fiel prinzipiell zustimmend aus, nur müsse die entschieden säkulare Shinui-Partei zuvor die Regierung verlassen.

Als Sharon dann auch noch den Vorsitzenden der sefardisch-orthodoxen Shas-Partei zu Koalitionsverhandlungen einlud, hatte der Shinui-Vorsitzende und Justizminister Tommy Lapid genug. Auf keinen Fall werde Shinui mit den Orthodoxen in einer Regierung sitzen, kündigte er an, und auch die Arbeitspartei solle sich davor vorsehen. Eine Koalition von Likud, Arbeitspartei und den Religiösen würde innerhalb der Likud-Fraktion auf weniger entschiedenen Widerstand stoßen. Sowohl Außenminister Silvan Shalom als auch Finanzminister Benjamin Netanjahu haben sich dafür ausgesprochen.

In der Arbeitspartei schlug die Nachricht von der Offerte des Premiers an die Orthodoxen wie eine Bombe ein, hatte man sich doch bisher als einzig möglichen Koalitionspartner gesehen. Ein zweites Frühstückstreffen von Sharon und Peres am Sonntagmorgen brachte Probleme zu Tage: Während Sharon nur eine Mehrheit für seinen Rückzugsplan sucht, verlangt die Arbeitspartei Änderungen im Regierungsprogramm. Insbesondere an der Wirtschaftspolitik scheiden sich die Geister. Weitgehende Zugeständnisse auf diesem Gebiet könnten Sharon Schwierigkeiten mit seinem ärgsten innerparteilichen Konkurrenten, Benjamin Netanjahu, bringen.

So wird eine große Koalition von Likud, Arbeitspartei und Shinui immer unwahrscheinlicher. Verhandlungen mit den Orthodoxen sind unkomplizierter. Die sefardische Shas-Partei fordert wie immer das Innenministerium und höhere Zuwendungen an ihre Religionsschulen. Ihre askenasische Schwesterpartei Vereinigtes Thora-Judentum ist ebenso käuflich. Sowohl Peres als auch Tommy Lapid werden wohl einsehen müssen, dass für den bedrängten Sharon persönliche Sympathien oder Wunschpartner zweitrangig werden. Er braucht eine Mehrheit zur Verwirklichung seines Rückzugsplanes. Ob die Arbeitspartei, die Orthodoxen oder die aus Angst vor einer linkslastigen Regierung in den Schoß der Fraktion zurückkehrenden Likud-Abtrünnigen ihm dazu verhelfen, kann ihm egal sein.