Sheikh mit Visionen

Ein hohes al-Qaida-Mitglied stellt sich von jörn schulz

Auch Islamisten haben Träume: »Ich hatte eine Vision. Ich war in einem großen Flugzeug, lang und weit. Ich trug es auf meinen Schultern, und ich ging von der Straße in die Wüste.« Ausführlich erörterte der saudische Sheikh mit Ussama bin Laden die Träume »guter religiöser Menschen« vor dem 11. September 2001. Das Erscheinen von Flugzeugen, Hochhäusern und Piloten in solchen »Visionen« galt ihnen als von Gott herabgesandte Zustimmung zum Massenmord.

Die bizarre Zusammenkunft wurde wahrscheinlich im November 2001 im afghanischen Kandahar auf einem Videoband aufgezeichnet, das bei der bald darauf folgenden überstürzten Abreise zurückgelassen wurde. Kein Geheimdienst der Welt konnte oder wollte damals den saudischen Sheikh identifizieren. Sein Name und sein Deckname sind nun bekannt: Khaled al-Harbi und Abu Suleiman al-Makki. Der ehemalige Geistliche in der Großen Moschee von Mekka wollte heim ins Königreich. Er nutzte das Amnestieangebot der saudischen Regierung und stellte sich in der vergangenen Woche im Iran.

Erst vier al-Qaida-Mitglieder haben sich den saudischen Behörden ergeben. Doch ungeachtet dieses für das Königshaus blamablen Ergebnisses scheint man wenig Interesse daran zu haben, den einzigen echten Erfolg des Amnestieangebots zu feiern. Denn das Video dokumentiert, wie al-Harbi einem gut gelaunten bin Laden über die Freude in Saudi-Arabien nach dem 11. September berichtet und beide detailliert die Meinung einzelner saudischer Geistlicher besprechen. Offenbar war al-Harbi ein wichtiger Verbindungsmann von al-Qaida-Anhängern in Saudi Arabien, insbesondere unter den Geistlichen. Eben diese Verbindung zwischen der von den Geistlichen verbreiteten Staatsdoktrin des Wahhabismus und dem islamistischen Terror leugnet das Königshaus standhaft.

Auch die Regierung der USA enthält sich triumphierender Äußerungen. Man möchte die saudischen Verbündeten nicht in Verlegenheit bringen, möglicherweise möchte man sich aber auch eine weitere Debatte über die Effektivität der Geheimdienstarbeit oder des »Kriegs gegen den Terror« ersparen.

Al-Harbi ist querschnittsgelähmt. Wenn er tatsächlich fast drei Jahre in der Illegalität überstehen konnte, spricht das für eine gut organisierte und abgeschottete Untergrundstruktur. Wenn al-Harbi nicht, wie die iranischen Behörden behaupten, erst kürzlich im Grenzgebiet zu Afghanistan eingetroffen ist, sondern bereits länger von den Ayatollahs beherbergt wurde, würde das die Kritik der US-Demokraten bestätigen, dass George W. Bush im »Krieg gegen den Terror« die falschen Prioritäten gesetzt hat.

Nach Angaben des Magazins Time hat die überparteiliche US-Kommission zum 11. September unter anderem festgestellt, dass der Iran den Grenzübertritt von und nach Afghanistan für al-Qaida-Mitglieder bewusst unbürokratisch gestaltet hat.Die Untersuchung habe ergeben, dass al-Qaida »viel mehr aktive Kontakte mit dem Iran und Pakistan hatte als mit dem Irak«, erklärte Thomas Kean, der Vorsitzende der Kommission.

Im Iran oder in Pakistan dürfte al-Harbi Zuflucht gefunden haben. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Rollstuhlfahrer, dessen Bild um die Welt ging, in diesen Polizeistaaten keinem Spitzel oder Agenten auffiel. Al-Harbi hielt es nicht einmal für nötig, sich seines Vollbartes zu entledigen. Das al-Qaida-Netzwerk verfügt offenbar über Unterstützung aus staatlichen Kreisen im Mittleren Osten, die zu identifizieren und zu bekämpfen jedoch das für den »Krieg gegen den Terror« aufgebaute Bündnissystem zerstören würde.