Zoff im Hause Öcalan

Die Aufkündigung des Waffenstillstandes durch die ehemalige PKK hat zu Spaltungen innerhalb ihrer Nachfolgeorganisation geführt. Kritisiert werden Dogmatismus und die Rückkehr zum bewaffneten Kampf. von udo wolter

Spätestens mit der Freilassung der kurdischen PolitikerInnen um Leyla Zana und der anschließenden Aufhebung des Urteils gegen sie scheint sich in der Türkei ein Reformprozess anzudeuten, der sich nicht mehr als bloße Kosmetik für den gewünschten EU-Beitritt abtun lässt. Wie verhält sich demgegenüber die ehemalige PKK, die von diesem Reformprozess bislang völlig ausgeschlossen ist? Nicht nur deshalb tut sich die Organisation mit einem Umbruch schwer, sondern offenbar auch wegen ihrer nach wie vor autoritären und um ihren inhaftierten »Volksführer« Abdullah Öcalan zentrierten Strukturen.

Dabei war die jüngste »Neugründung« der ehemaligen PKK Ende letzten Jahres als Kongra-Gel ausdrücklich damit begründet worden, »Reste des leninistischen Parteimodells sowie traditionelle dogmatische Denkstrukturen« hätten die Demokratisierung der Partei sowie die Einbeziehung neuer sozialer Gruppen behindert (Jungle World, 40/03).

Anfang Juni wurde nun mit der formal bereits im letzten Herbst erfolgten Aufkündigung des Waffenstillstandes ernst gemacht, den die damalige PKK vor fünf Jahren verkündet hatte. Seither häufen sich nicht nur Kämpfe zwischen der Guerilla und der türkischen Armee, die auch zuvor schon den militärischen Druck auf die in den kurdischen Gebieten der Türkei noch existierenden Reste der Guerilla erhöht hatte, sondern auch Guerillaüberfälle auf Armeeposten und Polizeistationen.

Nach türkischen Presseberichten sollen in den letzten Monaten 1 000 Guerillas aus ihrem Rückzugsgebiet in den nordirakischen Bergen ins türkische Gebiet eingesickert sein. Ihre tatsächliche Anzahl ist nur schwer zu ermitteln. Mehr als eine äußerst bescheidene militärische Kraft dürften sie jedoch kaum darstellen im Vergleich zu den über 10 000 KämpferInnen, die die PKK Mitte der neunziger Jahre unter Waffen hatte.

Die Wiederaufnahme bewaffneter Aktionen hat in der Führung des Kadek/Kongra-Gel zu tief greifenden Differenzen und Zerwürfnissen geführt. Bereits im März soll sich eine große Gruppe um Osman Öcalan, den Bruder des inhaftierten PKK-Chefs, sowie weitere altgediente Führungskader der PKK wie Nisamettin Tas und den ehemaligen Europasprecher, Kani Yilmaz, aus dem unter Kontrolle des Kongra-Gel stehenden Gebiet abgesetzt haben, und zwar unter die Obhut der Patriotischen Union Kurdistans (Puk) bzw. in die außerhalb des Gebietes der irakisch-kurdischen Regionalverwaltung gelegene, unter der Kontrolle der USA stehende Stadt Mossul. Ende Mai, nach einem Kongress der Organisation, scheint die Trennung endgültig geworden zu sein.

Die Dissidenten erklärten nunmehr ihren Ausstieg aus der Organisation und gründeten eine neue Gruppierung namens »Demokratische Friedensinitiative«. Als Gründe für den Ausstieg wurden vor allem der im Kongra-Gel noch vorherrschende »Stalinismus« und die Rückkehr zum bewaffneten Kampf genannt. »Die Bekenntnisse zu Frieden, Demokratie, Freiheit und Menschenrechten stehen letztendlich nur auf dem Papier«, zitiert die Journalistin Susanne Güsten von der österreichischen Nachrichtenagentur Apa aus der Gründungserklärung, die Bemühungen um die Erneuerung der PKK und ihrer Nachfolgegruppierungen seien gescheitert.

Die Anwesenheit der Gruppe um Osman Öcalan in Mossul wurde mittlerweile auch von Talabani, dem Chef der PUK, bestätigt, der allerdings mit Rücksicht auf die Türkei jede Zusammenarbeit mit der Gruppe dementierte. Das wirft ein Licht auf den mehr als prekären Status der ehemaligen PKKler im Nordirak. Deren Lager in den Bergen wird von den irakisch-kurdischen Parteien geduldet, solange sie sich ruhig verhalten und nicht das von der irakisch-kurdischen Diplomatie mühsam erreichte Stillhalten der Türkei gegenüber der kurdischen Selbstverwaltung im neuen Irak gefährden. Die Dissidenten kritisieren denn auch, dass die Rückkehr von Kongra-Gel zu bewaffneten Aktionen nicht nur »wieder Tod, Schmerz und Tränen« über die kurdische Bevölkerung bringe, sondern auch den Bemühungen der irakischen Kurden um relative Autonomie in einem föderalen Irak großen Schaden zufüge.

Ein weiterer Streitpunkt ist wohl die eng an die Politik der USA in der Region angelehnte Position der Gruppe um Osman Öcalan, der bereits in der Vergangenheit mit betont proamerikanischen Statements hervorgetreten war. Dass die Gruppe in Mossul direkt zu den US-Truppen »übergelaufen« sei, wie in einigen linken und kurdischen Medien zu vernehmen war, lässt sich jedoch nicht bestätigen.

Auch im »loyalen« Exekutivrat des Kongra-Gel sollen sich zunächst 120 von 224 Mitgliedern gegen neue bewaffnete Aktionen ausgesprochen haben, darunter auch der verteidigungspolitische Sprecher, Murat Karayilan. In jüngsten Statements zeigt er sich äußerst bemüht, die Rückkehr zu den Waffen als rein defensiv herunterzuspielen und den anhaltenden Friedenswillen des Kongra-Gel zu betonen.

Abdullah Öcalans Position ist wegen seiner Isolierung auf der Gefängnisinsel Imrali schwer auszumachen. Der Kongra-Gel führt jedoch all seine Beschlüsse auf den »kurdischen Volksführer« Apo zurück. Der unter der kurdischen Jugend offenbar abnehmende Kult um Öcalan (Jungle World, 28/04) feiert im Kern der Organisation aber nach wie vor fröhliche Urstände. Murat Karayilan erklärte im März, dass neben oder innerhalb des Kongra-Gel auch eine »neue PKK auf der Grundlage und den Perspektiven Abdullah Öcalans« aufgebaut werden solle. »Sie wird in Kurdistan und der Türkei die ideologische Arbeit der Apocîs (›Apoisten‹) und die Philosophie vorantreiben und, was Kunst, Kultur und Literatur betrifft, wegweisend sein.« Damit würde die PKK gewissermaßen zu ihren Ursprüngen zurückkehren. Ende der siebziger Jahre konstituierte die damals von anderen Linken eher abschätzig als Apocilar (»Anhänger Apos«) bezeichnete Strömung um Abdullah Öcalan sich erstmals als PKK.

Wegen des Vorgehens der Gruppe um seinen Bruder zeigte sich der Gefangene von Imrali natürlich sehr ungehalten. Über seine Anwälte bezichtigte er sie des Verrats und einer »gefährlichen rechten, nationalistischen Linie«, die sich mit dem »primitiven Nationalismus« der südkurdischen Parteiführer Talabani und Barzani verbünde. Damit wiederholt Öcalan allerdings lediglich, was er den irakisch-kurdischen Parteiführern schon seit Jahr und Tag vorwirft. Nur mit dem Unterschied, dass er es früher im Namen eines kurdisch-nationalen Sozialismus tat, heute jedoch im Namen der »Einheit mit dem türkischen Volk« im »Kampf um Frieden und Demokratie«.

Der Nationalismusvorwurf an die irakischen Kurdenparteien ist auch unter den neuen Auspizien schwer nachzuvollziehen, folgt doch die Beschränkung des Kongra-Gel auf die Forderung nach kulturellen Rechten für die Kurden innerhalb der Türkei ebenfalls einer Identitätspolitik entlang ethnischer Linien. Entsprechend oft tauchen auch in den jüngsten Verlautbarungen des Kongra-Gel und seiner Guerilla (HPG) die »Geschwisterlichkeit der Völker« und ähnliche Phrasen auf.

Indem sie die ohnehin eingeleiteten Reformen sozusagen bewaffnet vorantreiben will, kämpft die Guerilla des Kongra-Gel politisch gesehen für ihre eigene Überflüssigkeit. Was bleibt, ist der verzweifelte Versuch, mit Gewalt eine Amnestie für die Guerilla und ihren inhaftierten Vorsitzenden, besser noch die politische Rehabilitierung durchzusetzen. Ob das Sinn ergibt, ist zu bezweifeln.