Verschollen in Amerika

Die neue Platte der Hamburger Band Les Robespierres ist eine Operette. von roger behrens

Zur kulturellen Logik des Spätkapitalismus gehört, dass sukzessive die Inhalte der Künste suspendiert werden, dass Kunst selbst formal überflüssig wird. Klammert sich die freie Kunst an ihren Status der Autonomie, so erscheinen die Künste, die unmittelbar der Legitimation der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft dienten, bloß noch als Anachronismus. In der Gesellschaft des Spektakels ist das Theater zurückgeblieben als die unzulängliche Kopie dessen, was ohnehin passiert. In der Welt, die ihre ethischen Grundsätze am Profitmotiv ausrichtet, ist die Schaubühne als moralische Anstalt längst überflüssig geworden. Bevor Brecht, Beckett und andere in unterschiedlichen Varianten genau dieses Scheitern des Theaters als Theater reflektierten, war es Franz Kafka, der in seinem Amerikaroman »Der Verschollene« in einer bizarren und grotesken Szene dieses Scheitern als Scheitern der Gesellschaft überhaupt skizzierte: Karl Roßmann, der in Amerika keine rechte Anstellung findet, entdeckt durch Zufall ein Plakat für das Theater von Oklahoma. Sie stellen jeden ein, heißt es dort, nur von der Bezahlung ist nicht die Rede. Von einer Werbetruppe lässt Karl sich engagieren und beginnt nun die Reise nach Oklahoma. »Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas … «

»Trist und ramponiert ist die gesamte Bilderwelt Kafkas, auch dort, wo sie hoch hinaus will, im ›Naturtheater von Oklahoma‹ … «, schreibt Adorno. Kafkas Menschen »kriechen eigentlich zwischen Requisiten umher, die längst amortisiert sind und ihnen ihr Dasein nur als Almosen gewähren, indem sie über die eigene Lebensdauer hinaus fortexistieren. Die Verschiebung ist der ideologischen Gewohnheit nachgebildet, welche die Reproduktion des Lebens zum Gnadenakt der Verfügenden, der ›Arbeitgeber‹ verklärt. Sie beschreibt ein Ganzes, in dem die überzählig werden, die es umklammert und durch die es sich erhält.«

Les Robespierres adaptieren, neben anderen Vorlagen, Kafkas Amerikaroman. Und so wie Orson Welles einst seiner Verfilmung von Kafkas »Prozess« die Türhüterlegende als Prolog voranstellte, verfahren Les Robespierres nun in ihrer »Propaganda-Operette« »L’Amerique« mit Kafkas surrealem Amerika-Entwurf: Zusammen mit Angela Richter, Ted Gaier und Melissa Logan inszenierten sie eine Art Punk-Musical, ein anarchistisches Lehrstück. Was in Hamburg im Neuen Cinema / Deutschen Schauspielhaus im März 2003 und mittlerweile auch auf anderen Bühnen aufgeführt wurde, liegt jetzt als CD vor.

Die Kooperation zwischen politischem Themenabend, Diskurspop, Schauspielhaus und Kulturlinker hat ohnehin längst in Hamburg Tradition. Das etwas ironisch französisch (also in der Sprache des neuen Europa) betitelte Stück agitiert auf Deutsch, Französisch und Englisch, ebenso wie in der dem Portugiesischen ähnlichen Geheimsprache des Les-Robespierres-Sängers Klaus Ramcke; wie bei Kafkas Amerika-Roman bleibt auch bei »L’Amerique« unklar, ob das gemeinte Land die Vereinigten Staaten sind, Lateinamerika, das Empire, ein fiktives Amerika oder ein utopisches Nowhere – oder die bewusste Übertreibung jenes hierzulande so beliebten Michael-Moore-Amerikas, also eigentlich negatives Abbild der Vorurteile über Amerika, schließlich Synonym für das gegenwärtige Deutschland.

Von Franz Kafka geht’s zu Angela Davis, die das FBI 1970 auf die Fahndungsliste der zehn meistgesuchten Terroristen in den Vereinigten Staaten setzte, die verhaftet wurde und aufgrund des Drucks einer Internationalen Solidaritätskampagne freigesprochen werden musste. Es geht um Klassenverhältnisse und Rassismus, bis zu den Sicherheitslücken der kleinbürgerlichen Normalität – dazu gibt es Musik und Texte von Franz-Josef Degenhard, Eldrige Cleaver, Hanns Eisler, Chico Buarque, Martin Luther King, T.C. Boyle, Martin Crimp, Jo Dassin etc. Der Titel »L’Amerique« und seine Anspielungen reichen von »Amerikkka’s most wanted« bis zur »West Side Story«. Es ist aber keine Amerikakritik, erst recht kein Antiamerikanismus, sondern Amerika gerinnt zur Allegorie einer verdinglichten Kleinbürgerwelt, die aus Todeszellen, autoritären Familienstrukturen, Eigenheim und Automobil, Integration und Desintegration sowie den im Fetischismus geronnenen Bedürfnissen der Diktatur der Angepassten zusammengepresst ist.

Es scheint, als seien die Parolen mit Bedacht genauso antiquiert wie das Theater, auf dessen Bühne hier agiert wird. Gleichwohl bleibt der positive Bezug auf Propaganda problematisch. Zwar ist »Class War« zu skandieren, musikalisch eine hübsche Reminiszenz an die Dead Kennedys oder The Crass, politisch aber gerade als skandierte Parole fragwürdig. Der Klassenkampf, für den Les Robespierres sich stark machen, lässt sich nicht propagieren. Er findet ja statt; und das politische Bewusstsein dazu, ihm einen emanzipatorischen Charakter zu geben, widerspricht dem autoritären Gestus, der von keiner Propaganda zu trennen ist. Propaganda widerspricht der Freiheit, die sie verspricht. Propaganda widerspricht aber auch der Operette, die hier als Form gewählt ist. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass der mitunter zur Parole zurechtgebogene Inhalt nicht unmittelbar gemeint ist, sondern vielmehr in dieser Form, die Vermittlung verlangt, als Kritik der Propaganda gemeint ist. Dann ginge es auch weniger um Amerika, sondern um das Subjekt, um die mit letzten Mitteln des bürgerlichen Theaters aufgeworfene Frage, ob sich die Politik des Subjekts heute überhaupt noch inszenieren, also auf der Bühne repräsentieren lässt.

Ähnlich hatte bereits Schorsch Kamerun mit seiner Figur des Sylvesterboys die Karikatur des Übermenschen, des Superman geliefert: als exzentrischer Clown. In »L’Amerique« ist Captain America der Held, der fehlt: Es gibt ja keine Helden mehr, außer solchen Antihelden wie Karl Roßmann, abenteuerlustig genug, auch ohne Bezahlung jeden Job anzunehmen. Dass die Naturtheaterszene bei Les Robespierres vor dem Theater spielt, und zwar so wie in Goethes »Faust« das »Vorspiel«-Gespräch zwischen Direktor, Dichter und den lustigen Personen, meint ja auch, dass die Aufführung von »L’Amerique« selbst zum Job wird: »Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort!«

Obwohl nur eine Dreiviertelstunde lang, ist »L’Amerique« keine Kurzoper, auch keine Operette im Sinne der kleinen Oper. Sie ist eher eine komische Oper oder eine Opéra-féerie, wie die späteren Operetten Jacques Offenbachs genannt werden. Diese Märchenspiele oder allegorischen Entwürfe konterkarieren mit den übertriebenen Mitteln der Massenkultur das, was im 19. Jahrhundert die Oper als Gesamtkunstwerk nur regressiv zu retten vermochte: den Mythos der bürgerlichen Gesellschaft selbst, wie Wagner ihn in Bayreuth installierte.

Interessanterweise war es ja die deutsche Oper, die in den großen Festspielhäusern der Vereinigten Staaten aufgeführt wurde, um mit ihrem Ernst den Rassismus gegen die nicht weiße Kultur zu manifestieren (highbrow and lowbrow bezeichnen nicht nur hohe und niedere Kultur, sondern die Stirnform!). Demgegenüber etablierte sich eine andere Linie, die von der Offenbachschen Operette zur Jazzoper, zur Revue und zum Musical führte, zu Kurt Weill, George Gershwin oder Leonard Bernstein. In dieser Linie agieren und agitieren nun Les Robespierres.

Dass Les Robespierres sich der Operette als Form bedienen und der Propaganda als Inhalt, aktualisiert die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik. Der Anachronismus, der derart freigestellt wird, ist zugleich Bestandsaufnahme. Wäre es eine Propaganda-Oper, müsste das Stück unnötig ernst genommen werden; als Operette ist es ernst genug, um als Rätselbild verstanden zu werden: Man erfährt ja fast nichts über Amerika, was man nicht schon wusste oder ohnehin nicht wissen muss. Stattdessen werden Spuren gelegt, die mehr durch die Geschichte der Linken führen als zum Naturtheater von Oklahoma. Hier in Hamburg hieß der Ort der Aufführung von »L’ Amerique« nicht zufällig »Deutsches Schauspielhaus«. Les Robespierres bleiben in Amerika verschollen, und so entpuppt sich Amerika als ein merkwürdiger Traum, bis zum Schluss: L’Amérique, »si c’est un rêve, je veux rêver« (»… wenn es ein Traum ist, will ich träumen«).

Les Robespierres feat. Melissa Logan: L’Amerique. A Propaganda Operette. Buback