Wie ein Virus

Fernsehen, das mehr Macher als Zuschauer hat, ist das Ideal der Telestreet-Bewegung. Zweiter Teil der Serie über linke Medien in Europa. von federica matteoni

Das Phänomen von kleinen Piratensendern wird gewöhnlich mit Radios assoziiert. Das gilt vor allem in Italien, wo man seit den siebziger Jahren, als überall die legendären Freien Radios entstanden, Erfahrungen damit sammelte. Weder von »Medienaktivismus« noch von einer Strategie der »taktischen Medien« – Herstellung von Gegenöffentlichkeit insbesondere durch Vernetzung der einzelnen Medien – war damals die Rede. Die Freien Radios wollten vielmehr Gegeninformationen liefern und funktionierten wie politische Kollektive, die durch emanzipatorischen Mediengebrauch, dezentrale Programme, spielerischen und kreativen Umgang mit politischen Inhalten eine Revolution in der Sprache des Rundfunks herbeiführten. Sie erzeugten systematisch Risse im Kommunikationsgefüge und spielten in den sozialen Kämpfen von damals eine wichtige Rolle.

Die meisten dieser Radiosender mussten im Laufe der achtziger Jahre aufgeben, aber ihre Erfahrungen haben die italienische Medienlandschaft sehr stark geprägt und wirken noch heute als Modell für eine medienaktivistische Bewegung. Diese ist dabei, eine kritische Medienpraxis im Zeitalter der digitalen Globalisierung zu entwickeln. Durch das Internet sind neue Möglichkeiten für Produktion und Verbreitung kritischer Inhalte entstanden. Organisatoren von alternativen Medienprojekten können im Netz auf unterschiedlichstes Material zurückgreifen, und potenziell kann jeder Programmschnipsel herstellen und ins Netz stellen, wie die Unmengen von Videos zum G 8-Gipfel in Genua verdeutlichten.

Das jüngste Phänomen in der italienischen alternativen Medienlandschaft heißt »Telestreet«. Es steht für die vielen kleinen, illegalen, selbst gemachten Fernsehsender, die in mehreren Städten entstanden sind und sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen haben. Inzwischen gibt es etwa 100 solcher Sender. Sie zeigen Eigenproduktionen über lokale Themen, dokumentieren Demonstrationen oder politische Ereignisse oder senden kostenpflichtige Sendungen, die von kommerziellen Satellitenkanälen ausgestrahlt werden, beispielsweise große Fußballspiele.

Wie Indymedia und andere Gegenöffentlichkeitsnetzwerke, die das Motto »Don’t hate the media, become the media!« durch das Prinzip des open publishing in die Praxis umsetzen, versteht sich das Telestreet-Netzwerk als eine offene Plattform, die das Prinzip des open broadcasting verwendet und ihre Aufgabe darin sieht, mediale und politische Interventionen zu produzieren und zu dokumentieren. Wichtig ist dabei nicht, was die einzelnen Sender machen, sondern dass sie miteinander vernetzt sind.

Die Telestreet-Makers arbeiten nicht anders als ihre Radiokollegen vor 30 Jahren: Sie besetzen Frequenzen, genauer gesagt, sie platzieren Mini-Sendeanlagen dort, wo für die großen Anbieter wegen geografischer und architektonischer Hindernisse »blinde Flecken« entstehen, d.h. wo die Sender nicht zu empfangen sind. Gesendet wird im Windschatten von großen Sendern wie etwa MTV, ohne diese zu stören. Das reicht, um einige Blocks weit senden zu können.

Die Telestreets sind ein Very-low-budget-Projekt. Auf ihrer Website (www.telestreet.it) findet man Hinweise zum Bau einer eigenen Fernsehstation für 1 000 Euro. Man hat sich zum Ziel gesetzt, mit den einfachsten Mitteln gegen das in Italien herrschende Medienmonopol zu kämpfen.

Mikrofernsehen gegen den großen Medienmoloch – ist so etwas überhaupt möglich? Und ist so etwas in einem Land möglich, in dem der größte Medienunternehmer auch Ministerpräsident ist, der neben einem umfassenden privaten Fernsehnetzwerk (Mediaset) nun auch die indirekte Kontrolle über das öffentlich-rechtliche Fernsehen (RAI) hat? Mediaset und RAI decken 90 Prozent des gesamten italienischen Fernseh- und Werbemarktes ab. Kann man sich in dieser Situation ernsthaft vorstellen, der Medienindustrie »Konkurrenz zu machen«?

Hinter dem Projekt der Telestreets steht nicht die Idee, ein »alternatives«, »besseres« Fernsehprogramm anzubieten. »Fernsehen kann nie ›gut‹ sein«, sagt Franco Berardi Bifo, Medienphilosoph, post-operaistischer Cyberpunk und Initiator von Orfeo-TV in Bologna, dem ersten Sender des Telestreet-Netzwerkes. Ziel dieses Netzwerkes ist es ihm zufolge, einen Bruch mit dem vertikalen Kommunikationsmodell des Fernsehens zu vollziehen und eine verbreitete, vernetzte Kommunikation zu schaffen, die nach einem horizontalen Prinzip funktioniert. Vernetzte Kommunikation, das heißt, wie ein Virus zu arbeiten: unsichtbare, mikroskopisch kleine, verstreute Sender, die eine Straße nach der anderen, einen Kiez nach dem anderen mit Pluralität infizieren und mehr MacherInnen als ZuschauerInnen haben sollen.

»Stellt euch mal vor, was passieren würde, wenn alle anfingen, hinter der Videokamera zu stehen, statt vor der Glotze zu sitzen. Nur die Dummköpfe würden dann Fernsehen gucken, während alle anderen ihre Zeit damit verbringen würden, Fernsehen zu machen«, schreibt Bifo in der Publikation des Netzwerkes Telestreet.

Was passiert, wenn ein Fernsehsender mehr MacherInnen als ZuschauerInnen hat, ließ sich am Beispiel von Orfeo-TV beobachten, dem ersten Telestreet-Sender, der im Juni 2002 für die Bewohner der Via Orfeo im Zentrum von Bologna auf Sendung ging. Die Realisierung entsprach aber nicht den medientheoretischen Ansprüchen der Initiatoren. Ein strukturiertes Programm hatte Orfeo-TV nicht, ausgestrahlt wurden Mikro-Videoproduktionen, die für wenige Stunden den Alltag in der Gegend um die Via Orfeo zeigten. Viel Enthusiasmus begleitete dieses Pilotprojekt, dessen politisches Profil jedoch relativ verwaschen blieb. Von dem Versuch, eine horizontale diskursive Praxis zu konstruieren, blieb nicht viel mehr als eine Nabelschau übrig.

Ein Beispiel ganz anderer Art war »Telefabbrica«, der »Arbeitersender«. Er wurde im Dezember 2002 innerhalb einer Woche auf die Beine gestellt und sendete im sizilianischen Termini Imerese, um die Kämpfe der Arbeiter zu dokumentieren, die gegen Massenentlassungen des Automobilkonzerns Fiat protestierten. Telefabbrica »besetzte« einen Fernsehkanal von Termini; eine Sendegenehmigung der Regierung hatte der Sender nicht, er war illegal. Doch vor allem der Inhalt der Sendungen schien den Konzern und die Regierung zu stören. Täglich ab 20.30 Uhr wurden zwei Stunden lang Interviews mit Arbeitern und Videos von ihren Protestaktionen ausgestrahlt. Geduldet wurde das nicht lange: Nach drei Tagen ordnete der Telekommunikationsminister der Regierung Berlusconi, Maurizio Gasparri, die sofortige Einstellung des Sendebetriebs an.

Charakteristisch für das Phänomen der Telestreets ist die Absicht, Gegeninformation herzustellen und zu verbreiten und zugleich die gesellschaftliche Teilnahme an der sozialen Kommunikation zu intensivieren. Genau das hatten sich die Freien Radios in den Siebzigern vorgenommen. Die beiden Erfahrungen sind nicht nur durch die Zielsetzung, sondern auch durch die Stadt Bologna und den Namen von Bifo verbunden: 1976 riefen Bifo und sein kleines »maodadaistisches« Kollektiv A/Traverso Radio Alice ins Leben, eines der ersten freien Radios in Europa, welches längst zur Legende geworden ist.

»Wir lehnten jede militante Form von Gegenöffentlichkeit ab und wollten unsere Inhalte in formal verspielter, aber auch direkter Form rüberbringen«, erzählt Bifo. Die freien Radios betrieben aber nicht nur lustvolle Informationsguerilla, sie wurden auch zu einem wichtigen Medium, welches die damalige Protestbewegung koordinierte.

Heute, zehn Jahre nachdem das Internet zu einem Massenmedium geworden ist, eröffnen sich auch für das Radio neue Möglichkeiten. Ein Beispiel dafür war das »Global Audio Project«, das im Rahmen der Proteste gegen den G 8-Gipfel in Genua im Juli 2001 gegründete Netzwerk der italienischen freien Radios, das als Koordination der globalisierungskritischen Radios in Italien funktionieren will. Radio GAP koordinierte über das Kurzschließen von Radio, Handy und Internet die Proteste gegen den G 8-Gipfel und führte damit den taktischen Aspekt des Mediums Radio vor.