Rote Fatwa

Londons Bürgermeister Ken Livingstone erntet für die Einladung eines Islamisten harsche Kritik. Auch auf dem Europäischen Sozialforum in London soll der nun auftreten. von udo wolter

Ich war entsetzt über den Ausbruch von Lügen und Islamophobie in der Regenbogenpresse gegen Professor al-Qaradawi«, ereiferte sich Londons linker Bürgermeister, der »rote Ken« Livingstone, kürzlich in einer Debatte des Londoner Stadtrats. Der grüne Abgeordnete Darren Johnson hatte einen Antrag eingebracht, die Auftritte des Islamisten in der Londoner City Hall nachträglich zu verurteilen und ihm künftige zu verweigern. Doch dieser Antrag wurde abgelehnt. Im Rahmen seiner Großbritannien-Reise auf Einladung der Muslim Association of Britain (MAB) war der Kleriker in der zweiten Juliwoche zweimal unter der Schirmherrschaft Livingstones in London aufgetreten: auf einer Konferenz zur Verteidigung des »Rechts auf Kopftuch« und bei der Jahrestagung des »Europäischen Rats für Fatwa und Forschung«, dem Yusuf al-Qaradawi vorsteht (Jungle World 31/04). In der öffentlichen Auseinandersetzung um diese Auftritte protestierten keineswegs nur rechte Politiker und Boulevardblätter, sondern auch linke und vor allem Queer-Aktivisten sowie das »Board of Deputies of British Jews« gegen den Besuch des Islamisten.

Al-Qaradawi, der wie die MAB der Muslimbruderschaft nahe steht, sei weder frauenfeindlich noch militant homophob, verteidigte Livingstone den aus seiner Sicht gemäßigten Prediger. Dabei sind dessen indirekte Rechtfertigung der Todesstrafe für Schwule nach »islamischem Recht« ebenso wie seine frauenfeindlichen Auffassungen jederzeit auf den Seiten von IslamOnline nachzulesen. Zudem ließ al-Qaradawi gegenüber britischen Medien keine Gelegenheit aus, palästinensische Selbstmordattentate zu rechtfertigen.

Al-Qaradawi selbst bedankte sich in einem offenen Brief bei Livingstone überschwänglich für die ihm gewährte Gastfreundschaft und Solidarität. Dankbar nahm er dessen Einladung an, beim vom 14. bis 17. Oktober unter der Schirmherrschaft von Livingstone in London stattfindenden European Social Forum (ESF) aufzutreten. Diese Einladung löste nicht nur Entsetzen unter Queer-Aktivisten aus, sondern führte auch bei anderen Akteuren des ESF-Koordinierungskomitees zu Verärgerung. Livingstones unabgesprochene Einladung zeige, dass der Londoner Bürgermeister die zugesagte Unterstützung des ESF mit 250 000 Pfund aus dem Stadtsäckel offenbar zu selbstherrlichen Eingriffen in die Programmgestaltung nutze.

Der Skandal um al-Qaradawi ist jedoch kein Einzelfall, sondern symptomatisch für den Zustand erheblicher Teile der britischen Linken und Antikriegsbewegung. Nicht nur, dass im Namen des antirassistischen Kampfes gegen »Islamophobie« sowie aufgrund des gemeinsamen Antizionismus und Antiamerikanismus etwa in der Bewegung gegen den Irakkrieg mit Islamisten paktiert wird. Hinzu kommt bei parlamentarisch orientierten Gruppen wie dem Anfang des Jahres gegründeten Wahlbündnis »Respect« das Schielen auf moslemische Wählerstimmen. Respect gilt als dominiert von der trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP) mit ihren Promis wie Lindsey German und John Rees, ist aber vor allem durch George Galloway als Frontmann in der Öffentlichkeit bekannt. Die SWP hatte bereits in der Stop the War Coalition mit den Islamisten der MAB paktiert. Der ehemalige Labour-Abgeordnete Galloway war vor allem für seine Nähe zum irakischen Ba’ath-Regime berüchtigt; mehrfach besuchte er Saddam Hussein und bezeichnete dessen Stellvertreter Tarik Aziz noch nach dem Fall des Regimes als seinen persönlichen Freund.

Bei den Europawahlen versuchte Respect, die Stimmen moslemischer Wähler über ein Bündnis mit der MAB für sich zu mobilisieren, und überflutete vor allem Moscheen mit Wahlkampfzetteln. Die MAB unterstützte Respect jedoch nicht durchgängig, in London etwa nur bei den Europawahlen; bei den gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlen empfahl die MAB lieber den Labour-Kandidaten Ken Livingstone.

Mit dem Versuch, junge migrantische Wähler mit moslemischem Hintergrund durch Bündnisse mit reaktionären kommunalistischen Organisationen wie der MAB an sich zu binden, überbietet Respect bei aller Gegnerschaft zur Kriegspolitik der Regierung die reaktionären Aspekte des Blairismus. Dieser setzt nämlich zur Befriedung der aufgrund sozialer Ausgrenzung immer wieder aufbrechenden Unruhen junger Migranten ebenfalls auf die Autorität religiöser Führer und Organisationen innerhalb der zunehmend religiös-kulturalistisch definierten migrantischen »Communities«.

Galloway outete sich im April in einem Interview gegenüber dem Independent gar als im »festen Glauben an Gott« verwurzelter Abtreibungsgegner – was ihm prompt lobende Worte und Wahlempfehlungen der MAB und anderer islamisch-kommunalistischer Kräfte einbrachte, aber zumindest einen Aufschrei bei einigen säkularen Unterstützern von Respect auslöste.

Der wegen SWP-Dominanz, Paktierens mit der MAB und linkem Antisemitismus aus dem Anti-Kriegs-Bündnis ausgestiegene Aktivist Phil Doré analysiert, dass mit dem zunehmenden Bezug auf moslemische Wählerschichten Themen wie Queer- und Frauenrechte fast vollständig aus der Wahlkampfrhetorik von Respect verschwanden und am Ende selbst die Konservativen schwulenfreundlicher daherkamen als Respect. Herbe Erfahrungen mit diesem Spektrum musste vor kurzem auch eine Gruppe Queer-Demonstranten um den bekannten Aktivisten Peter Thatchell machen, als sie auf die Idee kamen, sich einer Palästina-Solidaritäts-Demonstration mit Schildern anzuschließen, auf denen zu lesen stand: »Israel, hör’ auf, Palästinenser zu unterdrücken! Palästina, hör’ auf, Schwule zu unterdrücken!« Kaum auf der Demo angekommen, sahen sie sich von einem wütenden Mob aus SWP-Aktivisten, Islamisten und anglikanischen Geistlichen umringt, der sie als »Zionisten«, »Rassisten«, »CIA- und MI5-Agenten« und »Sharon-Unterstützer« bezeichnete.

Die Europawahlen verliefen für Respect insgesamt enttäuschend, und Galloway verfehlte sein Ziel eines EU-Parlamentssitzes, erzielte aber einige Überraschungserfolge in Wahlbezirken mit hohem moslemischen Wähleranteil. In neuen Broschüren kündigt Respect eine verstärkte Präsenz bei kommenden Wahlen an und trommelt schon für das ESF in London. Bereits im vergangenen Jahr saßen Lindsey German und George Galloway für die Stop the War Coalition in diversen Foren des Pariser ESF. In Paris hatte es vor allem seitens jüdischer Intellektueller heftige Kritik am ESF-Auftritt des durch antisemitische Äußerungen aufgefallenen Euro-Islamisten Tariq Ramadan gegeben, der nunmehr auch auf den von Ken Livingstone gehosteten MAB-Konferenzen in London auftrat. Angesichts der von anderen Gruppen bereits beklagten Dominanz von Livingstone einer- und der SWP andererseits im Inner Circle des Londoner Koordinierungskomitees muss man sich beim ESF in London wohl auf einiges gefasst machen.