Das bittere Ende des Flaneurs

Mit Eifer gegen Faulheit und soziale Absicherung. Die französische Regierung folgt dem deutschen Vorbild. Große Proteste gibt es dennoch nicht. von bernhard schmid

Der französische Sozialist und Verfechter des Müßigganges Paul Lafargue wäre wohl begeistert gewesen. Die Unternehmensleitung ist es weit weniger. »Bonjour Paresse« (»Ein Gruß an die Faulheit«) heißt das Buch, das eine Mitarbeiterin der Forschungsabteilung des staatlichen Stromkonzerns EDF vor wenigen Wochen veröffentlicht hat. Der Untertitel des Werks lautet: »Von der Kunst und der Notwendigkeit, so wenig wie möglich im Unternehmen zu tun.« In Zeiten, in denen die Privatisierung des Energieversorgungsunternehmens vorangetrieben wird, fand das die Konzernleitung von EDF eher unpassend. Am 17. August muss sich Corinne Maier, die Autorin der Ode an die Faulheit, einem Disziplinarverfahren stellen. Ihrem Buch hat das noch weitere Publizität verschafft.

Keinesfalls begeistert von einem Recht auf Faulheit, das Marxens Schwiegersohn Lafargue, nicht auf Linie seines Verwandten, einst proklamierte, ist auch Gesundheitsminister Phillippe Douste-Blazy, der von manchen Medien gerne »Douste-Blabla« genannt wird. Mitte Juli warf er in Le Monde die gewichtige Frage auf: »Wollen wir in einer Gesellschaft der Arbeit leben oder in einer des Müßiggangs und des Flanierens, wie es Martine Aubry vorschwebte?« Damit niemand auf die Idee kommt, sich für die zweite Variante zu entscheiden, will die konservative Regierung im Herbst das Gesetz zur 35-Stunden-Woche demontieren, das die sozialdemokratische Arbeitsministerin Aubry 1999 einführte.

Die Abschaffung ist allerdings bis hin zu Vertretern der Industrie umstritten. Denn das sozialdemokratische Gesetz brachte auch Vorteile für die Unternehmer. Es bietet die Möglichkeit, die Arbeitszeiten im Jahresmaßstab variabel zu gestalten, so dass sie an die Auftragslage des Betriebes angepasst werden können. Deswegen wird die Regierung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin das Gesetz nach längerem internen Streit letztlich auch nicht einfach streichen. Vielmehr will sie es beibehalten, aber Überstunden rechtlich erleichtern und für die Unternehmer verbilligen. Damit wäre für eine maximale Flexibilität der Arbeitskraft gesorgt.

Bis dahin herrscht noch eine kurze parlamentarische Sommerpause, die am 1. August begonnen hat. Auch in diesem Sommer wurde die Pause verkürzt, um noch während der Urlaubszeit der Franzosen möglichst viele regressive Reformen durchzudrücken. Im vorigen Jahr war es die Rentenreform, dieses Jahr machte das Parlament gleich für zwei größere Veränderungen Überstunden. Zum einen beschloss es die Gesundheitsreform, die am 30. Juli im Parlament verabschiedet wurde. Nun wird auch in Frankreich eine Praxisgebühr eingeführt, die allerdings im Gegensatz zu ihrem deutschen Pendant bei jedem Arztbesuch erhoben wird. Die Gebühr wurde auf einen Euro festgelegt, kann aber in Zukunft noch steigen. Der Direktor der gesetzlichen Krankenkasse, der von der Regierung für fünf Jahre ernannt wird, ist künftig bevollmächtigt, alleine über die Preis- und Erstattungspolitik zu entscheiden. Bisher war er an ein Votum der »Sozialpartner« gebunden, die im Aufsichtsrat der Kasse sitzen. Diese Bindung fällt nun weg. Zudem wird eine übergeordnete Gesundheitsbehörde geschaffen, die einen so genannten Arzneimittelwarenkorb definieren soll. Nur diese Medikamente sollen noch erstattet werden.

Das andere große Vorhaben war, Verantwortung zu dezentralisieren. Bereits seit eineinhalb Jahren arbeitet die Regierung daran, Zuständigkeiten vom Zentralstaat auf die Regionen sowie die Départements zu übertragen. Vor allem handelt es sich dabei um die Sozialhilfe sowie um Teile des Gesundheits- und Bildungswesens. Damit verbunden ist die Abkehr von dem Anspruch, im ganzen Land ähnliche soziale Lebensverhältnisse zu garantieren.

Außerdem sollen offensichtlich mit der Dezentralisierung wichtige sozialpolitische Fragen entpolitisiert werden. Solange der Zentralstaat zuständig war, demonstrierten mitunter Millionen Franzosen im ganzen Land gegen umstrittene Entscheidungen, was bedeutete, dass der Staat »druckanfällig« war. Dieses Kräfteverhältnis soll nun zu Ungunsten sozialer Bewegungen geändert werden.

Aber auch innerhalb des konservativen Lagers stößt diese offene Abkehr von bisher tragenden republikanischen Prinzipien auf Widerstand. Den meisten gaullistischen Opponenten geht es nicht allein um den Erhalt sozialer Standards, sondern vor allem auch um die Staatsautorität, die in ihren Augen durch die Dezentralisierung abgeschwächt wird.

Ende Juli geriet die Regierung Raffarin in ernsthafte Schwierigkeiten. Angesichts von 4 600 Änderungsanträgen der Opposition drohte der letzte Teil der Dezentralisierungsvorschläge, nicht mehr vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet zu werden. Der Premierminister griff daher zu einem Verfahrenstrick und verknüpfte die Debatte mit der Vertrauensfrage. Damit war die Diskussion innerhalb der Konservativen beendet. Denn wenn die Mehrheit des Parlaments der Regierung nicht das Misstrauen ausspricht, gilt automatisch auch die Vorlage als angenommen. Der Parlamentspräsident Jean-Louis Debré, ein konservativer Gegner der Reform, blieb daher der Debatte fern. Die sozialdemokratische Abgeordnete Hélène Mignon musste ihn vertreten, und so durfte sich die Regierung vom Präsidentensessel aus harsche Vorwürfe anhören: »Die Reformen der Regierung sind zum Synonym für Ungerechtigkeit und Regression geworden. (…) Die Demokratie wird auf allen Ebenen abgewürgt.« Der Skandal war perfekt, auch wenn die Vorlage durchgedrückt werden konnte.

Das Image der Regierung ist auch auf anderen Ebenen angeschlagen. Vorschub leistete dem eine doppelt symbolträchtige Entscheidung von Premier Raffarin. Er verschob eine bereits seit Jahren angekündigte Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um ein volles Jahr. Am selben Tag wurde bekannt, dass Raffarin eine Pauschalamnestie für Steuerhinterzieher erlassen will. Kapitalbesitzer, die ihr Geld am Fiskus vorbei ins Ausland schafften, sollen dafür straf- und steuerfrei bleiben, wenn sie es in Zukunft in Frankreich anlegen. Auch zahlreiche Politiker der konservativen Parlamentsmehrheit rügten das »fatale doppelte Symbol«.

Zugute kommt der Regierung die Schwäche und Passivität der Gewerkschaften. Da diese im vorigen Jahr die Auseinandersetzung um die Rentenreform verloren und zugleich wegen ihrer defensiv-zögerlichen Streiktaktik die Kontrolle über ihre eigene Basis zu verlieren drohten, zogen sie es in diesem Jahr vor, anderen als symbolischen Protest zu unterlassen. Gegen die Gesundheitsreform fand eine einzige Demonstration statt. Bei der parlamentarischen Opposition und den Gewerkschaften ist Warten angesagt – auf 2007, das nächste Wahljahr.