Was man alles nicht wissen muss

Fußball-EM, Tour de France, Formel 1, jetzt noch die olympischen Spiele – nach diesem Sommer ist jeder ein Sportexperte. Zumindest aber lukas wieselberg

Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben. Und vom Sport. Das hat mittlerweile selbst die Europäische Union begriffen und 2004 zum »Jahr der Erziehung durch Sport« gemacht. Dabei sollen »körperliche Tüchtigkeit, persönliche Einsatzbereitschaft und soziale Kompetenzen« gelehrt und gelernt werden, wie es in den offiziellen Zielsetzungen heißt. Lauter nützliche Dinge für das 21. Jahrhundert, die sich mit den Anforderungsprofilen der herumirrenden Ich-AGs durchaus treffen. Das konnte und kann man natürlich kritisieren. Stichworte: zweckrationales Verhältnis zum Leib, Marktförmigkeit von Bewegungskulturen, Erschließung neuer Kapitalformen etc. Aber diese Fertigkeiten sind wenigstens sinnvoll. Im Gegensatz zu dem Lexikon des nutzlosen Sportwissens, das sich im Lauf eines Lebens so ansammelt.

Als Österreicher bezog ich mein Wissen über die Welt vorwiegend in der Winterzeit. Denn Winterzeit ist Siegerzeit. Dass kein anderes Völkchen schneller die Berge runterwedeln, -fahren oder neuerdings -carven kann, gehört bei uns zum erkenntnistheoretischen Existenzminimum. »Den Bergski niemals belasten, sondern den Talski«, klingt es noch in meinen Ohren, die zumeist mit dem Rest des voralpinen Körpers die Rennen im Fernsehen verfolgten. Doch nicht nur die Macht der weißen Pracht prägte meine Jugend. Im Sommer sorgten Fußball und Formel 1 fürs Weltbild. Während Fußballwissen heutzutage kaum mehr zur Distinktion taugt (Spiel dauert 90 Minuten, danach ist davor, der Ball rund), sind die Lektionen der Formel 1 noch nicht ganz so banal.

Gelernt habe ich sie vom in Österreich sehr populären Sportreporter Heinz Prüller, der seit mehr als 30 Jahren die Motorsportrennen kommentiert. Wie kein anderer sorgte er für meine Initiation in diese rätselhafte Welt von Mensch und Maschine. Am wichtigsten, so lernte ich von ihm, sind die Boxen: Die richtige »Boxenstrategie« entscheidet heutzutage Rennen, auf die »Boxensignale« sollte man – trotz Funkverkehrs – achten und beim »Boxenstopp« rechtzeitig auf die Bremse steigen. Sonst gibt es einen »Boxenunfall«. Wieder auf der Piste gilt es die anderen zu überholen. Am besten geht das auf langen Geraden vor den Kurven. Aber Achtung, auch hier herrschen Regeln, die man beachten sollte. Wer »innen« ist, womöglich gar »innen und vorne«, hat in gewisser Weise Vorrang. Ansonsten gibt es einen »Rennunfall«, der dank immer besserer Schutzmaßnahmen aber schon seit 1994, als u. a. Ayrton Senna ums Leben kam, nicht mehr tödlich ausfällt. In der letzten Runde eines Rennens, so lernte meine Generation, horcht der führende Pilot eines Rennens misstrauisch in den Motor hinein, achtet auf jedes verdächtige Geräusch, damit so kurz vor dem Schluss nur ja nichts mehr passiert. Auf dem Siegerpodest werden dann zwei Hymnen gespielt, eine für den Fahrer, die andere fürs Auto. Fürs Leben gelernt: Autonomie kommt von Auto.

Leider ist die Formel 1 nicht olympisch, in den nächsten beiden Wochen wartet in Athen aber auch so eine geballte Ladung Pädagogik auf uns. Die Spiele der Neuzeit erzielen in diesem Jahr einen »Homerun«, und da trifft es sich gut, dass Baseball unter den 28 Sportarten vertreten ist. Im Mittelpunkt aber stehen bei den olympischen Spielen immer die Leichathleten, insbesondere die Läufer, von denen man auch viel lernen kann. Etwa, dass man in der Mitte immer am schnellsten vorankommt. Die unterschiedlichen Längen der Laufbahnen ganz links (innen) oder ganz rechts (außen) im Stadion werden zwar ausgeglichen, aber die zentrifugalen Kräfte sind innen doch viel stärker. (Die besten Schwimmer schwimmen auch immer in der Mitte des Beckens, mit Zentrifugalkräften kann das allerdings nicht erklärt werden.) Hürdenläufer wiederum dürfen ihre Hindernisse gerne umwerfen, aber das bringt nichts, da es zu viel Zeit kostet. Dann lieber gleich drüber springen. Und: »Jenseits der 800 Meter beginnt Afrika.« Denn aus irgendwelchen genetischen, höhenluftbedingten oder gar sozioökonomischen Gründen sind die Vertreter Ostafrikas seit Jahrzehnten auf die Goldmedaillen in den Mittel- und Langstreckenbewerben abonniert. Da hast du als Weißer einfach keine Chance, nicht mal, wenn du wie Dieter Baumann noch so sehr auf die (Zahnpasta-) Tube drückst.

Auch die Radfahrer sind gute Stichwortgeber. Von ihnen weiß ich, dass sich Buckeln nach oben und Treten nach unten karrierefördernd auswirken kann, oder dass »Bergflöhe« die Tour de France nicht gewinnen können. (Das gelingt nur »kompletten Fahrern«, die sowohl in der Ebene als auch am Berg und beim Zeitfahren vorne sind.) Interessant sind auch die Übersetzungen, die die Fahrer treten. Vorne 52 Zähne oder 53, hinten die kleine Scheibe mit maximal 12 Ritzeln?

Auch über das Urinieren des Feldes während der Fahrt bin ich voll im Bilde bzw. nicht. Denn die Kameras schwenken meistens dezent weg, wenn sich die Fahrer zu einer Pinkelpause entschließen. Üblicherweise geschieht das während der Fahrt, der männliche Biker strahlt dann sozusagen an den Wegesrand. Gegen Ende einer Etappe kann es aber schon auch einmal in die Hose gehen. Als besonders asozial gelten Fahrer, die während eines derartigen kollektiven Toilettengangs einen Angriff reiten, die Verfolgung lässt sich dann nicht so leicht in die Hand nehmen. Derlei Probleme sind in Athen nicht zu erwarten, Ausscheidungsrennen auf der Bahn sind nämlich nicht mehr olympisch.

Auch bei den anderen Sportarten darf man im Lexikon des nutzlosen Sportwissens blättern bzw. neue Kapitel hinzufügen: Etwa dass die »Eskimorolle« nichts für angehende Inuit-Schauspieler ist, sondern die einzige Möglichkeit für Wildwasserpaddler, ihr ewig zum Kentern neigendes Gefährt wieder aufrecht zu kriegen. Mindestens ebenso sinnlos ist das Wissen um die »Wenderichter«. Die sind nämlich keine authentischen Zeitzeugen der jüngeren Geschichte Deutschlands, sondern eine Notwendigkeit im Schwimmsport: Dort kontrollieren sie, ob am Beckenrand bei Brust oder Kraul korrekt gewendet wurde.

Apropos Wasser: Dass Synchronschwimmerinnen so wunderbar synchron zur Musik schwimmen können, liegt unter anderem daran, dass sie auch mit Unterwasserlautsprechern beschallt werden. Und der Triathlon besteht eigentlich aus vier Wettbewerben, denn beim Umziehen zwischen Schwimm-, Rad- und Laufmontur können ebenfalls wertvolle Sekunden verloren gehen! Auf gar keinen Fall fehlen dürfen beim ersten flüchtigen Querlesen eines Lexikons des nutzlosen Sportwissens: die »Piaffe« beim Dressurreiten, bei der das Pferd auf der Stelle zu treten scheint, der »Ausheber« der Ringer, bei dem der Gegner einfach herumgeschleudert wird, und der »zweieinhalbfache Auberbachsalto vorwärts mit Schraube« beim Turmspringen, der sich nun echt von selbst versteht.