Abwarten und arbeiten

Die Gewerkschaften halten sich bei den Protesten gegen Hartz IV zurück. Das liegt an ihrer Rolle als Arbeitskraftkartell. von felix klopotek

Die Gewerkschaften führen in den nächsten Wochen die Anti-Hartz-Proteste an. Während diese sich zu Massendemonstrationen ausgeweitet haben, die Politik aber immer noch kompromisslos bleibt, gehen die Gewerkschaften zu »symbolischen Aktionen« über. Arbeitsämter werden besetzt, Gewerkschafter ketten sich in Parteizentralen der SPD an Heizungen und treten in den Hungerstreik. Währenddessen erklären die Betriebsräte großer Firmen, sich nicht länger erpressen lassen zu wollen: Die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich muss wieder auf die Agenda!

In einem halben Jahr ist die Situation eskaliert. Die Arbeiter streiken in den Betrieben gegen Mehrarbeit. Wer an der Streikfront nicht gebraucht wird, marschiert zum nächsten Arbeitsamt und schließt sich den Arbeitslosen an, die das Amt längst nicht mehr symbolisch besetzen, sondern seit Wochen belagern.

Das ist alles in allem nichts als ein schöner Traum. Weder können es sich die deutschen Einheitsgewerkschaften leisten, politisch zu agitieren, noch dürfte es Solistreiks für Arbeitslose geben. Arbeiter streiken bekanntlich für höhere Löhne und gegen die Arbeitslosigkeit. Sind sie erst mal arbeitslos, fühlen sie sich machtlos.

Kluge junge Leute wissen dank Georg Fülberths Texten in konkret:Wer politische Karriere machen will, der trete jetzt in die SPD ein. Denn wenn in zwei Jahren Schröder abgewählt werden sollte, seine Generation daraufhin von der Bühne abtritt und nach vielleicht drei Legislaturperioden Schwarz-Blau (oder Schwarz-Grün) wieder »die Sozis« gewählt werden, dann ist die neue Generation am Drücker. In der Opposition wird die SPD genügend Zeit finden, sich wieder um die Sorgen und Nöte des kleinen Mannes zu kümmern. Der Platz auf der linken Seite des parlamentarischen Spektrums wird nicht verwaisen.

Die Gewerkschaften können all das, was eine Partei kann, nicht. Sie sind keine politische Organisation. Sie treten nicht zu Parlamentswahlen an, sie stellen keine Regierung, sie haben nicht die Chance, sich in der Opposition zu »erneuern«. Der Aktionsort der Gewerkschaften ist der Arbeitsmarkt, hier stehen sie als Arbeitskraftkartell den Unternehmern gegenüber. In den Tarifverhandlungen versuchen beide Parteien, die Konflikte zu lösen, die aus dem Zusammenprall des jeweiligen »guten Rechts« der beiden Seiten entstehen.

Die Unternehmerverbände fordern: »Unsere Klientel hat das Recht, profitabel zu wirtschaften. Sonst werden wir im internationalen Konkurrenzkampf untergehen!« Die Gewerkschaften halten dagegen: »Unsere Klientel hat das Recht, von seiner Arbeit leben zu können. Kann es das nicht, wird es in massenhaftem Elend versinken!« Zwischen zwei gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Es kommt zu Streiks, zu Aussperrungen, zu Versuchen des Streikbruchs, zu Fabrikbesetzungen. Irgendwann wird wieder verhandelt.

Die Macht der Gewerkschaften, dieses Spiel spielen zu können, fußt auf zwei Säulen. Erstens versprechen sie den Arbeitern eine Verbesserung der Situation, wenn diese sich in Gewerkschaften organisieren. Zweitens signalisieren sie den Unternehmern: »Solange ihr uns ernst nehmt, halten wir die Arbeiter ruhig.« Die Gewerkschaftsdisziplin ist immer eine doppelte: Sie richtet sich gegen das Kapital (»Wir lassen uns nicht spalten!«) und gegen die Unzufriedenheit der Malocher (»Jetzt schlagt euch mal die revolutionären Flausen aus dem Kopf!«).

Diese Säulen stehen auf schwankendem Grund. Denn Arbeitslosigkeit ist Gift für jede Gewerkschaft. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die nicht durch einen konjunkturellen Aufschwung abgebaut wird, ist Aufgabe des Staates. Dass sich der Staat um die soziale Betreuung der Arbeitslosen kümmere, war einst ein Kampfziel der Gewerkschaften. Dass das Kapital unverbesserlich ist und kein dauerhafter Friede mit ihm zu schließen ist, hatten die Gewerkschaften durchaus erkannt, im alltäglichen Klassenkampf blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig. Also appellierten sie – über den politischen Flügel der Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie – an die Instanz, die angeblich über den Klassenkonflikten steht.

Mittlerweile erledigt der Staat die Betreuung der Arbeitslosen aber so, wie es die Gewerkschaften gerade nicht wollen. Die Schaffung eines zweiten und dritten Arbeitsmarktes, die Wiedereinführung des Arbeitszwangs, die intensive Förderung von Leiharbeitsfirmen, schließlich die Deregulierung des Marktes, begleitet von schrillen Tönen gegen »Betonköpfe« und »Gewerkschaftsbonzen«, schafft vielleicht neue Arbeitsplätze, entzieht diese aber der gewerkschaftlichen Kontrolle.

Wie lassen sich denn Ich-AGs organisieren? Prekär Beschäftigte? Das zu erwartende Heer von Tagelöhnern und kurzzeitig Beschäftigten? Die Malocher mit den Patchwork-Biographien: zwei Jahre Journalist, drei Jahre Kellner, ein Jahr arbeitslos, dann beim Bau? Wie lassen sich gewerkschaftliche Strategien in einem Terrain verwirklichen, das immer zerklüfteter wird? Die derzeitige Situation ist schlecht für die SPD, für die Gewerkschaften aber ist sie eine Katastrophe.

Als die IG Metall im vergangenen Jahr den Streik im Osten verloren gab und danach die Offensive gegen die »linken Bonzen« begann, bedienten sich die Medien »besonnener« Betriebsräte, die über Jürgen Peters, den Vorsitzenden der IG Metall, nur ihren Kopf schütteln konnten. Das war nicht nur eine perfide Strategie der Spaltung, sondern auch ein Vorgeschmack auf die Zukunft. Auch wenn die ohnehin schon schwachen Gewerkschaften in die Marginalität abgedrängt werden, will das Kapital nicht auf eine innerbetriebliche Repräsentation der Arbeiter verzichten. Rationalisierungsmaßnahmen beschließt man immer noch am besten im Konsens.

Dennoch ist Pessimismus fehl am Platz. Denn die Flexibilisierung und Deregulierung, die das Kapital den Arbeitern zumutet, ereilen die Unternehmer auch selbst. Schon jetzt sind die Arbeits-prozesse eine hochgradig fragile Angelegenheit. Es bedarf nur eines kurzen Streiks der LKW-Fahrer, und die gesamte Just-In-Time-Produktion der Automobilherstellung kommt ins Stocken. Legen die Arbeiter der öffentlichen Verkehrsbetriebe einer Großstadt ihre Arbeit nieder, versinkt binnen weniger Stunden das öffentliche Leben im Chaos.

Die Arbeitsprozesse sind derart vergesellschaftet, dass sie von den verschiedensten Orten aus angegriffen und behindert werden können. Die Gewerkschaften wissen das und haben, im Rahmen ihres Daseins als Arbeitskraftkartell, durchaus effektive Nadelstichtaktiken angewandt. Selbstverständlich stets kontrolliert und in Maßen. Was aber, wenn in Zukunft keine Gewerkschaft mehr zur Kontrolle da ist? Wenn Arbeiter irgendeines Zuliefererbetriebes in einen wilden Streik treten, dessen Auswirkungen weit über den Aktionsradius der Streikenden zu spüren sind?

Die Zukunft wird für beide Seiten ungewisser. Das ist kein Grund, eine revolutionäre Perspektive zu beschwören oder eine Renaissance des Syndikalismus. Aber auch kein Grund, in einer Art Panikreaktion doch noch an Realpolitik zu glauben und auf die Gewerkschaftslinke und ihre Wahlalternative zu hoffen.